© by Lisa Jetzinger 7a

Traumtanz

Eileen:
Acht Uhr morgens, zwei Fahrstunden von New York City entfernt. Die Sonne kriecht über den Horizont wie ein glühender Feuerball. Genauso glühend wie dieser Traum in mir.
Noch nie war ich mir so sicher: Ich möchte Ballerina werden.
Das ist der Grund, warum ich jeden Tag eine Stunde vor Schulbeginn aufgestanden bin, um mich zu dehnen und das ist auch der Grund, warum ich drei Tage die Woche nach der Schule gearbeitet habe, um mir Ballettstunden zu finanzieren. Es ist auch der Grund für meine verbeulten Füße und die Schmerzen und wahrscheinlich auch der Grund, warum ich keine Freunde habe.
Ich lehne mich in die harte Lehne des Bussitzes zurück und spiele mit dem kleinen Zettel in meiner Hand. Es ist das Busfahrticket, das ich fest umklammert halte; so fest, dass meine Fingerknöchel weiß hervortreten. Für dieses Ticket habe ich zwei Monate gespart und ich weiß, dass ich nur eine Chance habe.
Zehn Uhr morgens, die Skyline von New York baut sich in naher Ferne auf wie eine Fata Morgana.

Maria:
Das Auto ist stark geheizt, aber trotzdem zittern meine Hände und Beine vor Aufregung. Immer wieder wiederhole ich die Worte in meinem Kopf: Mein Name ist Maria, ich bin siebzehn Jahre alt und möchte auf der New Yorker Ballettakademie vortanzen. Genauso wie hundert andere auch und genauso wie meine beiden besten Freundinnen Sofia und Lora, die im Rücksitz unseres Autos sitzen. Mein Vater braust über die Autobahn, er hat sich extra für mich den Tag in seiner Firma freigenommen, was aber nicht viel bedeutet, immerhin ist er der Chef. Endlich materialisieren sich die Wolkenkratzer vor uns. Sie sind in grauen Dunst gehüllt und genauso groß wie mein Traum. Ich möchte Ballerina werden.

Eileen:
Als ich die Akademie betrete, komme ich beinahe um vor Aufregung. Die anderen Mädchen haben bereits alle Plätze auf den Garderobenbänken belegt und dehnen sich; die Füße in die Höhe gestreckt wie rosarote Flamingos. Letzte Tipps werden ausgetauscht, Zehe einbandagiert und Spitzenschuhe angezogen. Es ist laut und riecht nach großen Träumen.
Ich werfe meinen Rucksack auf eine Fensterbank und schlüpfe in mein Kostüm. Es ist ein schlichter Ballettrock, den meine Mutter mir genäht hat. Die Schuhe sind gebraucht und zu groß, aber sie müssen funktionieren. Wenigstens noch heute. Ich beginne mich zu dehnen; fühle wie meine Muskeln ins Unendliche gezogen werden und ich mich beruhige. Ich habe nur eine Chance, aber ich werde sie nutzen.

Maria:
Sofia und Lora tratschen und quietschen, als sie andere Freundinnen unter dem Haufen rosaroter Ballett-Tutus finden. Sie eilen umher wie aufgescheuchte Gänse und ich lasse sie alleine. Nur keine Aufregung, alles wird gut.
Ich lege mein Zeug neben ein anderes Mädchen, das ihre Tasche auf die Fensterbank geworfen hat. Sie trägt einen ziemlich schäbigen Rock und sieht ansonsten auch nicht sehr anmutig aus. Doch als sie ihre Beine in die Luft wirft und Sprünge übt, sehe ich diese Hoffnung in ihren Augen aufblitzen und ich weiß sofort: Sie ist hierhergekommen, um von der besten Ballettschule der Welt aufgenommen zu werden. Koste es, was es wolle.

Eileen:
Wir alle werden in drei Gruppen zum Vortanzen aufgeteilt. Ich bin in der ersten Gruppe und habe die Nummer zwanzig. Es ist nicht meine Lieblingszahl, aber auch keine Unglückszahl und ich bin zufrieden. Wir reihen uns an der Stange auf und als die Musik einsetzt, löst sich meine Aufregung in Luft auf. Ich vergesse die Juroren und ich vergesse die anderen Mädchen.
Die süßen Klänge füllen mein Herz und lassen meine Seele tanzen. Und obwohl ich nicht die beste Ballettausbildung habe, weiß ich, dass ich hier die Beste bin. Mein Herz rast in meiner Brust, ich fühle eine unglaubliche Anmut in mir, von meinen Haarwurzeln bis in die gestreckten Zehenspitzen erfüllt sich mich und mein ganzer Körper kribbelt.

Maria:
Als ich sie tanzen sehe, fällt mir plötzlich wieder ihr Name ein. Sie heißt Eileen und kommt aus derselben Stadt wie ich. Ihr Vater ist gestorben, als sie drei war, und sie lebt in dem schäbigen Wohnungsblock am Ende der Pearl Street.
Doch hier weiß keiner, dass sie nachmittags arbeiten muss, keine Freunde hat und ihr Vater tot ist. Hier zählt nur, wie sie tanzt.
Und sie tanzt, als wäre sie dazu geboren. Ich merke wie die Juroren auf sie deuten und sich etwas notieren. Meine Aufregung steigt und ich hoffe, dass die roten Flecken auf meinem Hals nicht zu auffällig sind. Ich bin in der dritten Gruppe eingeteilt und warte voller Anspannung auf meinen großen Moment.

Eileen:
Ich bin zum Tanzen geboren, aber auf einmal überkommt mich ein seltsames Gefühl. Meine Seele tanzt meinem Körper davon. Ich hasple kurz, kann die Position kaum halten und im nächsten Moment erfüllt mich gleißender Schmerz. Kurz wird mir schwarz vor Augen. Würde man mich so in einem Comic sehen, müsste man mir Sternchen um den Kopf malen.
Ich muss mir irgendeinen Muskel gezerrt haben, aber wie durch ein Wunder falle ich nicht und die Juroren scheinen es nicht bemerkt zu haben. Die letzten Klänge des Lieds ertönen und ich bemühe mich um einen neutralen Gesichtsausdruck.

Maria:
Nachdem meine Gruppe vorgetanzt hat, werden die Ergebnisse auf das schwarze Brett gepinnt. Ich bin mir sicher, dass ich weiter bin, aber trotzdem weiß ich, dass ich nicht die Beste war. Nicht nach den Jahren harter Ausbildung, Schmerzen und Disziplin. Es ärgert mich, dass ein einfaches Mädchen wie Eileen besser war als ich.
Doch als ich mich versichert habe, dass ich auf dem schwarzen Brett stehe, erkenne ich, wie Eileen mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden sitzt. Sie weint nicht, aber ihr linkes Bein zuckt und sie hält es fest umklammert.
„Alles in Ordnung?“, frage ich sie und sie schüttelt den Kopf.
„Bist du gefallen?“, hake ich nach und sie schüttelt erneut den Kopf.
„Muskel gezerrt“, quetscht sie hervor und auf einmal überrollt mich eine Welle von Mitleid.
Wir haben erst die erste Vortanzrunde geschafft. Es gibt noch eine zweite für alle, die in die nächste Runde gekommen sind. Niemals könnte Eileen mit einer solchen Zerrung weitertanzen. Ich bücke mich und begutachte ihr Bein. Äußerlich erkennt man nichts, aber als ich die Hand auf ihren Unterschenkel lege, zuckt sie zusammen.
„Ich habe eine Salbe da“, murmle ich und krame eine Tube aus meiner Handtasche. Ich verteile es auf ihrem Muskel und sie wimmert leise.
„Ich muss das schaffen“, wispert sie mir zu und mein Herz zieht sich zusammen. „Ich habe nur eine Chance. Ein weiteres Mal kann ich mir das nicht leisten.“
„Du kannst nicht mit einem gezerrten Muskel tanzen. Und schon gar nicht in diesen Schuhen, die dir keine Stabilität geben“, beschwichtige ich sie und versuche, sie auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen.
Sie schüttelt hilflos den Kopf. „Ich muss.“
Meine beiden besten Freundinnen nähern sich uns mit langen Gesichtern und rotgeheulten Augen. Sie haben es beide nicht geschafft.
„Maria, es geht gleich weiter“, teilen sie mir mit.
„Gibt es denn nicht wieder drei Gruppen?“, fragt Eileen. Es scheint ihr erstes Vortanzen zu sein.
„In der zweiten Runde gibt es nur noch eine Gruppe. Warst du denn noch nie bei einem Vortanzen?“, fragt Sofia neugierig und Eileen senkt beschämt den Kopf.
Es ist mir peinlich, wie sich meine Freundinnen vor ihr verhalten.
„Komm endlich, Maria“, bettelt Lora und will mich wegzerren, „Du musst es einfach schaffen. Die hier kann sowieso nicht mehr tanzen.“
Sie mustern Eileen und grinsen spöttisch. In meinem Bauch brodelt es vor Wut und ich bin kurz davor, ihnen meine Meinung zu geigen, aber da sind sie auch schon verschwunden.
Eine gut gekleidete, gertenschlanke Frau kommt in den Raum und kündigt die zweite Runde des Vortanzens an.
Ich helfe Eileen auf die Beine und sie verzweifelt, als sie einsieht, dass sie kaum gehen, geschweige denn tanzen, kann.
Jetzt erst rollen die Tränen. Sie streift sich die schäbigen Spitzenschuhe von den Füßen und schleudert sie in ihren Rucksack. Ich vermute, dass sie aufgeben und gehen wird, aber ich habe mich gewaltig getäuscht.
Eileen beißt die Zähne aufeinander, bis sie knirschen und versucht ihr Bein zu dehnen.
Ich an ihrer Stelle wäre gegangen und in dem Moment wird mir klar, dass ich eine wahre Ballerina vor mir habe. Ein Mädchen, das so lange für ihre Träume gekämpft hat und nur eine Chance hat.
„Nimm meine“, bestimme ich und reiße mir die Spitzenschuhe von den Füßen. Es sind die perfekten Schuhe. Weiche Ledersohlen, gut biegbar, aber stabil.
„Und was ist mit dir?“, fragt sie überrascht und begutachtet meine Schuhe.
„Ich kann noch zu tausenden Vortanzen gehen. Nächstes Jahr bewerbe ich mich wieder hier und dann klappt es. Nimm sie einfach!“

Eileen:
Zwölf Uhr mittags in der Ballettakademie New York. An dem Ort, an dem Träume wahrwerden. Ein zweites Mal an diesem Tag betrete ich die haushohe Halle, in der ich vortanzen soll. Mein Bein schmerzt höllisch, und mein Muskel brennt wie Feuer, aber als die Musik einsetzt, weiß ich wieder warum ich hier bin. Und diesmal tanze ich nicht nur für meinen Traum, sondern auch für Maria, die ihren für mich aufgegeben hat.