© by Wilhelm Maria Lipp

„Ich liebe dich!“ – „Hilfe!“

„Ich liebe dich!“, so begann ein wirklich seltsames Gespräch. Sie, etwa 155 cm groß, dunklere Hautfarbe, Mandelaugen, zwei Walkingstöcke in den Händen und einen riesigen Rucksack am Rücken, sagte diese drei Worte zu mir. Zu mir!

Ich kannte sie nicht. Eine fremde Frau! Ja, das war sie eindeutig, fremd und Frau.

„Hilfe!“, mein erster spontaner Gedanke. Was will sie von mir? Ich sah sie fragend an. Wieder kamen ihre Worte:

„Ich liebe dich!“ Dabei deutete sie auf meine Uhr.

„Liebt sie meine Uhr?“, war meine nächste Idee. Als sie dann aber eine Karte von unserer Gegend aus ihrem Rucksack holte, darauf deutete, sie mir unter das Gesicht hielt und wieder sagte „Ich liebe dich!“, kam ich den Tatsachen schon näher.

Eindeutig liebt sie nicht mich, wie denn auch? Sie kann mich nicht kennen, dachte ich. Oder doch? Wer weiß, was in den sozialen Medien verbreitet wird. Vielleicht meinte sie doch mich?

Blödsinn, sie kann kein Wort in deutscher Sprache. Sie möchte vielleicht wissen, wie spät es ist, oder wie sie zum Bahnhof oder in ein bestimmtes Hotel kommt. Und die einzigen deutschen Wörter, die sie sich bisher merken konnte, sind eben: „Ich liebe dich!“

Also versuchte ich es mit Englisch, aber ohne Glück, sie versteht mich nicht. Beinahe verzweifelnd höre ich immer wieder diese berühmten drei Worte aus ihrem Mund.

Ob sie chinesisch kann? Ich testete es und sagte zu ihr:

„Woa ai niii!“ – Das verstand sie, denn nun schaute sie mich überrascht an. Das Gespräch wurde einseitig weiter geführt. Sie sagte:

„Ich liebe dich!“ und ich antwortete mit „Woa ai niii!“, dabei deuteten wir abwechselnd auf Uhr und Karte.

Gottseidank kam dann ein weiterer Wanderer, der zu ihr gehören dürfte, denn kaum sah sie ihn, lief sie auf ihn zu, umarmte ihn, sagte noch einmal „Ich liebe dich!“ zu mir, dabei faltete sie ihre Hände und verneigte sich freundlich zu mir. Dann verschwand sie im Getümmel der Passanten