© by Karin Ch. Taferner

Wage Vermutung

„Ich liebe dich“, sagt der Waagemann.  

„Ich liebe dich noch viel mehr“, antwortet die Waagefrau, die mit frisch geföhnter Frisur das Waagengeschäft betritt und sich an den Wartenden vorbei auf ihn zubewegt.

„Meine Liebe ist wie der Ozean, der mit dem Horizont verschmilzt“, bekräftigt er seinen Liebesschwur bildlich und blendet dabei die Kunden völlig aus.

„Ach, der Ozean ist endlich, auch wenn du seine Ufer nicht siehst. Meine Liebe ist wie das Universum. Sie stößt an keine Grenze“, erwidert sie während sie die Weste gegen den blauen Arbeitsmantel tauscht.

„Der Ozean, das Universum“, sagt der Waagerich und schaut durch das Schaufenster in die Ferne.

„Wer war der Nächste, bitte?“, holt sie ihn zurück ins Waagengeschäft.

„Der nächste, bitte“, schüttelt es ihn. „Der nächste, bitte.“

„Meine Waage muss geeicht werden. Ich glaube nicht, was da angezeigt wird“, beschwert sich eine Dame im großgeblümten Mantelschürzenkleid.

„Sie waren doch schon vor einer Woche da. Ihre Waage ist in Ordnung.“ 

„Schauen Sie doch nochmal nach“, sagt die Geblümte und lehnt sich über den Verkaufstresen, dass er seinen Blick nicht mehr aus ihrem V-Ausschnitt  lösen kann. „Bitte“, fügt sie hinzu und schiebt ihm die Personenwaage zu.

„Frau Wagner, ich kann nur betonen, was mein Mann schon erklärte. Die Waage ist völlig in Ordnung“, mischt sich die Waagefrau ein.

„Nicht in Ordnung.“

„Doch.“

„Nein!“

„Doch!“

„Hört auf, hört auf, meine Damen! Ich schau mir das nochmal an, Frau Wagner. Es sind ja wieder sieben Tage verstrichen, vielleicht hat sich doch ein Wackelkontakt entwickelt.“

„Danke, ich wusste, Sie lassen mich nicht im Stich“, sagt sie mit einem Augenzwinkern, dreht sich um und streckt der Waagefrau die Zunge entgegen, während sie die Tür in Schloss zieht.

Die Waagefrau schnappt die vermeintlich kaputte Waage mit der einen Hand und zieht ihren Mann mit der anderen ins Hinterzimmer. „Mit der Waage stimmt alles, ganz im Gegensatz zu Frau Wagner“, faucht sie. „Dafür brauchst du keine Zeit mehr zu verschwenden. Du hast ja gesehen, wie die Knöpfe  an ihrem Kleid um Mitleid gefleht haben. Die haben verzweifelt versucht ihre Brüste zurückzuhalten, damit sie dir nicht ins Gesicht fallen.“

„Das Universum, wie das Universum hast du gesagt“, antwortet er um sie auf andere Gedanken zu bringen und umarmt sie. Ihr Körper ist noch etwas steif vor Aufregung, aber seine Körpernähe lässt ihre Anspannung verblassen.

„Wie der Ozean“, seufzt sie. „Der Ozean ist mir lieber“, flüstert sie und schaut in seine blauen Augen. „Dort sieht man kein Ufer und keine geblümten Mantelschürzen“,  stellt sie fest und drückt ihre Lippen auf seine. „Ich liebe dich“, stammelt er. „Ich liebe dich noch viel mehr.“