© by Michaela Lipp

Han und Gret

 Han sitzt am PC, Gret am Drucker. Sie druckt gerade die Beileid-Karten für die Menschen, die bei der Beerdigung ihrer Mama dabei waren. Han verschickt die Mails und zündet die Onlinekerzen erneut an, die sie für ihre Mama angemacht haben. So gehen die Beiden mit ihrer Trauer um. Ihre Mama ist, nein war eine gute Programmiererin. Sie hat Han und Gret alles beigebracht, was sie ka…, nein konnte.

Obwohl ihr Vater und ihre Mama schon lange geschieden sind, wohnt der jetzt hier im Haus. Oh Han und Gret hassen das. Der ist so altmodisch und hat eine Frau dabei, die blöde ist. Immer will sie Han und Gret an die *frische Luft* schicken und stellt dazu das W-Lan Netz im Haus ab. Sie hat einen neuen Vertrag mit einem neuen Passwort gemacht, an den die Kinder nicht drankommen.

Die ist schuld, dass Mama und Vater geschieden sind. Die hat ihn verführt, die war mal seine Arbeitskollegin. Und jetzt ist sie den ganzen Tag zuhause, weil sie es *gut meint* und weil sie schwanger ist. Ah ist das ätzend. Jetzt bekommen die zwei noch ein Halbgeschwisterchen.

Warum Mama gestorben ist? Sie hatte einen Autounfall. Ihr selbstlenkendes Auto hat das Fahrzeug über die Böschung gelenkt, weil in dem entgegenkommenden drei Personen waren. Diese Autos sind manches Mal sowas von doof. 

Jetzt sind die zwei recht traurig, klar und verständlich. Und diese dumme Frau hat schon wieder das W-Lan-Netz abgeschaltet. Jetzt gerade, mitten im Druckauftrag. Natürlich streiken der Drucker, der PC, der Laptop. Eigentlich alles. Han stöhnt auf, all die Arbeit von zwei Stunden mit einem Knopfdruck zunichte gemacht. Auch Gret ärgert sich, ihr Drucker bleibt mittendrinnen stehen und spuckt kein einziges Blatt mehr aus.

Sie stöhnen auf und schauen sich an. Von unten kommt die Stimme dieser Stiefmutter: „Los, raus mit euch. Es ist schön draußen. Keine Stubenhocker hier. Hänsel und Gretel, runter kommen! “ Sie hört sich so betont fröhlich an. Es ist so doof, dass sie die Namen der beiden so verändert. Ihr Vater weiß das gar nicht, oder? Wütend packen die beiden ihre Handys und gehen außer Haus. Nicht einen Blick werfen sie auf die schwangere Stiefmutter.

„Gehen wir Geocaching?“ sagt Gret. Han nickt: „Klar doch, ich hab gesehen, es gibt einen neuen Cach in der Nähe. Wir brauchen aber Gummistiefel dafür, die sind in der Garage. Schaffen wir das noch, bevor der Herr Vater heimkommt?“

Gret nickt: „Klar, ich hol die Stiefel, du die Räder, treffen wir uns gleich dann hinten an der Bushaltestelle.“ Sie stecken ihre Handys weg und jeder rennt in eine andere Richtung.

 Ja, kurz danach stehen beide schwer atmend an der Bushaltestelle. Han hat schon das Handy gezückt und auf die Halterung am Fahrrad gesteckt. Ja und natürlich sein GPS angeschaltet. „Fahr du voraus, Han. Ich folge dir, so spare ich Energie am Handy.“

Gesagt, getan, Han fährt voraus, es geht ein ganzes Stück auf der Landstraße entlang. Sie achten zwar auf den Verkehr, aber auch immer wieder auf die Anzeige am Handy. „Der nächste Waldweg wird es sein, biegen wir ab.“ Und so fahren sie jetzt auf einem Wirtschaftsweg durch den Wald. „Noch 620 Meter, dann sind wir da.“ Wieder biegen sie ab, jetzt in einen Waldweg, der wirklich holperig ist. Über Stock und Stein geht es, Baumwurzeln queren den Weg, aber auch umgeworfene Bäume. Jetzt müssen sie absteigen, ihre Räder schieben, hier kann man nicht mehr fahren. Gret sagt: „Sollen wir die Räder hierlassen? Ich kann nimmer.“ Sie sind ein eingespieltes Team. Kaum jemand merkt, dass die beiden Geschwister sind, sie sind sehr unterschiedlich. Han ist klein und dünn, Gret ist zwar auch dünn, aber schon sehr groß gewachsen. Aber sie sind sogar Zwillinge, sie hören oft, wenn der andere sie braucht. Spüren ihn. Und auch so Momente wie jetzt, wo sie müde werden, fühlen sie es. Sie lehnen ihre Räder an einen Baum, ziehen die Gummistiefel an und die Chucks kommen ans Lenkrad. Wer will die schon hier im Wald klauen.

Nun geht es zu Fuß weiter. Nur noch 240 Meter. Und jetzt ohne jeglichen Weg. Mitten durch den Wald. Jetzt ist es noch mühsamer, sie plagen sich, steigen über Äste und Bäume, stolpern über Steine unter dem Laub und kommen dann in ein etwas tieferes, feuchtes Gebiet. „Aaah, Gret, mein Akku ist leer. Vor lauter GPS – Suche hier im Wald. Mach du deines an.“ Klar zückt Gret ihr Handy, öffnet die App und das GPS. „Ich habe noch 28% Leistung, wir sollten uns beeilen.“

So geht es noch schneller durch den Wald, links, rechts, sie sind immerzu unterwegs. Der Cach wird vor ihnen angezeigt, es sieht aus, als ob er hin und her hüpft. Die beiden aber schaffen das schon. Jetzt kommen sie an einen Himmelsweiher. Mitten im Wald. Es sieht toll aus und es ist durch den Wald kühler geworden. Die Bäume spiegeln sich im Wasser und man hört die Vögel zwitschern. Gret merkt erst jetzt, wie angespannt sie die ganze Zeit war. Nun müssen sie aber noch durch den Weiher gehen. Puh, das Wasser ist ganz kalt. Sie halten sich an den Händen fest. Gret japst nach Luft, eine große Portion von dem kalten Zeug ist in den linken Gummistiefel gelaufen, sie sieht ihren Bruder an. Der lacht und hebt das eine Bein, aus dem Stiefel kommt auch schon Wasser. Die beiden gehen weiter, obwohl sie jetzt kalte Füße haben. „Noch 2 Meter, links von uns.“ Gret gibt die nächste Anweisung. Han beugt sich hinunter, er sucht mit den Augen im Wasser. Es ist ganz klar, da sehen beide fast gleichzeitig eine kleine Blechdose und Han holt sie herauf. „Der Cach! Juhu, wir haben es geschafft!“ Han reibt sich den Arm trocken und dann öffnet er den Cach und darin eingeschweißt ist eine weiße Murmel und ein Zettel mit den Worten: „Glückwunsch. Nächster Cach: 2 km weiter im Wald in südöstlicher Richtung. Mit den genauen Koordinaten.“ Sie lachen sich an, zwei Caches zum Suchen an einem Tag, das ist toll. Sie sehen sich an und beide grinsen: „Na klasse, den suchen wir“ Sie sind sich einig.

Jetzt geht es langsam, wieder Hand in Hand zum Ufer und sie setzen sich hin. Schütten sie das Wasser erst mal aus den Stiefeln.

„Ach, weißt du noch, das letzte Mal waren wir mit Mama unterwegs.“

„Ja klar, wie hätte ich das vergessen können.“

Sie sehen sich an, feuchte Augen haben beide und jetzt kommt ein Moment, der sehr anstrengend ist: Sie weinen um ihre Mama. Noch kein einziges Mal konnten sie es bisher, es war alles so eisig um sie herum. Die Menschen wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen, wie kann man jemanden trösten, der das wichtigste in seinem Leben verloren hat? Ich glaube, es ist unmöglich, weil jeder anders darüber denkt. Und jetzt lassen sie ihren Tränen freien Lauf. Sie sind Kinder, Geschwister und jetzt sind sie alleine. Naja, sie haben sich selbst, aber sie denken darüber nach, wie es zuhause ist. Diese schwangere Stiefmutter, die sie immer ins Freie schickt. Ihr Vater, der immer Arbeiten ist und nichts kapiert. Ach es ist so zum Heulen. Die Trauer um die Mama, der Ärger über das Zuhause, die Angst vor der Zukunft.

Irgendwann sind die letzten Tränen von den Kinder-Gesichtern getropft. „Jetzt aber los, bevor es dunkel wird und wir wieder Mecker bekommen, suchen wir den nächsten Cache.“

Gret schaut auf ihr Handy „Südosten ist da“, sie deutet auf einen kleinen Berg in der Nähe, „so haben wir einen Anhaltspunkt. Ich habe nun noch 11%, hoffen wir mal, dass es genügt, auch zum Räder finden, weiß ich nicht.“

So geht es voran. Jetzt ist es zwar nicht so dichter Wald, aber die Strümpfe in den Gummistiefeln sind nass, das ist nicht sehr angenehm, zu gehen, aber sie sind unterwegs. Wenn schon nicht daheim, dann wenigstens zusammen hier draußen.

Sie werden immer müder, auch werden die Mücken im Wald aufdringlich. Aber sie gehen voran. Han bleibt kurz stehen und bringt Grets Handy in Sichtweite. Die Koordinaten haben die beiden natürlich eingegeben. Es ist nicht mehr weit, 100 Meter in etwa vor den beiden. Und das Handy von Gret zeigt noch etwas an: es hat keinen Saft mehr, der Akku ist leer, es piepst einmal und dann gibt es seinen Geist auf. Hm, blöde, aber die 100 Meter können sie wahrscheinlich abschätzen. Gret macht große Schritte und zählt dabei. Bei 150 stockt sie kurz, schaut nach vorn. „Da steht ein Haus.“ Sie gehen um das Haus herum. In einem Fenster steht ein Blink- Schild. *Free Wifi* Auf der Terrasse liegen Ladekabel herum, die an Steckdosen angeschlossen sind. Ein Schild steht dabei: „Fehlt Energie? Lade dich hier auf.“

Eine Lounge-Ecke lädt ein, ein gläserner Kühlschrank. Bekannte Brause-Flaschen in Braun, Gelb oder Weiß, Mineralwasser, Säfte. Kein Alk, aber wer braucht das schon. Han nimmt sich eine Cola und wirft sich in die Lounge. Gret ist misstrauisch: „Mama hat immer gesagt, trau nicht jedem offenen W-Lan- Netz.“

Da kommt eine Frau aus dem Haus. Gret bleibt wie versteinert stehen. Han schließt gerade sein Handy an ein Ladekabel an. Es piepst leise, als es zu laden beginnt.“ Auch er schaut die Frau an. Diese lächelt freundlich und sagt: „Blödes Gefühl, Man kommt sich wie abgeschnitten von der Außenwelt vor. Ich kenn das recht gut, darum mein Angebot hier. Ich bin übrigens Ingrid, ich wohne hier. Ich bin Street Workerin. Das kennt ihr bestimmt. Habt ihr Hunger? Wart ihr Geo-Caching? Dann habt ihr meinen Cache gefunden? Ich mache das erst seit kurzem und dachte, so finde ich coole Leute. Welche, die sich mit Technik auskennen. Auch wenn sie jünger sind. Ich wollte gleich Essen. Burger, Salat und Pommes. Mögt ihr das? Ich mache einfach etwas mehr und ihr könnt mitessen. Im Tiefkühler ist genug und dann gibt es halt weniger Salat für alle. Fertig. Mag wer helfen? Ach, lasst die nassen Gummistiefel hier draußen und die Socken auch.“

Ingrid dreht sich um und geht ins Haus. Sie lässt die Türe offen.

Han aber ist gleich mit Feuereifer dabei. Als Han seine Stiefel und die Socken auszieht und bei seiner Schwester steht, hält sie ihn kurz am Arm fest. Sie schaut ihn an. „Geht das gut?“,  und Han meint: „Gret, was soll schon schiefgehen, die ist ok und wir sind zu zweit.“

Gret geht auch mit, Ingrid ist schon in der Küche. Wie ein Wirbelwind hüpft sie durchs Zimmer. Sie zeigt auf den Schrank: Teller, Servietten und Besteck sind darin. „Gabeln reichen.“ Sagt sie, Gret deckt den Tisch. Ingrid zeigt ihr auch hier, wo ein Ladekabel ist. „Dein Handy sollte auch Energie brauchen, oder? “

Han wendet die Burger in der Pfanne und Ingrid macht den Salat. Es ist fast wie früher, es wird gelacht und gealbert.

Dann sitzen die drei am Tisch und essen genüsslich. Es schmeckt so gut und Han hat Ketchup Flecken auf der Nase. Die Kinder lassen sich anstecken von Ingrids Energie und sprechen viel von ihrem Zuhause, von ihrer Mama und dass es ihnen nicht gut geht. Einmal fragt Ingrid nach, wie ihre Mama geheißen hat. Da verdunkelte sich ihre Miene. Kurz danach aber hat sie sich wieder gefangen. Ingrid ist ein Wirbelwind, sie redet und erzählt mit Händen und Füssen. Von ihrem Beruf und auch von ihrem abgebrochenem Studium als Informatikerin. Irgendwann sind alle sehr müde und ruhig. Han liegt schon fast am Tisch mit dem Kopf. Gret sieht es und überlegt, wie sie ihren Bruder nach Hause bringen kann, es ist inzwischen dunkel. Ingrid sagt zu Gret: „Oh je, so müde seid ihr und ich rede und rede. Legt euch aufs Sofa, ich hole eine Decke für jeden und ein Kissen.“ Sie hebt Han mit Gretels Hilfe aufs Sofa und auch Gret legt sich daneben.

„Soll ich jemanden anrufen, dann könnt ihr hier schlafen und wir reden morgen noch etwas, ich lade euch zum Frühstück ein, ich habe Zeit.“ Gret nickt und gibt die Festnetz Nummer ihres Zuhauses preis. Sie ist satt, müde und zufrieden. Dann schläft sie mit einem guten Gefühl ein.

Ingrid geht nach nebenan.

 Am nächsten Morgen erwachen die Zwillinge fast gleichzeitig. Es riecht nach Kakao und auf dem Tisch steht Brot, Butter, Nussnougatcreme. Drei Teller und am Tisch sitzt Ingrid mit einem Kaffee. „Na ihr zwei, schon ausgeschlafen? Die Sonne scheint schon. Ich habe bei euch zuhause angerufen. Ich erzähle euch gleich davon. Da hinten ist das Bad, ihr könnt euch da frisch machen.“

Han und Gret gehen gemeinsam ins Bad. Dort liegen zwei neue Zahnbürsten in der Verpackung und eine Zahnpasta. Frische Handtücher. Sie machen sich frisch, kämmen sich die Haare und kommen dann wieder aus dem Badezimmer.

Dann setzen sie sich an ihre Plätze von gestern Abend und trinken ihren Kakao. Ingrid fängt wieder zu reden an: „Ich habe gestern noch mit eurer Stiefmutter geredet. Bescheid gesagt, dass ihr bei mir seid. Sie ist sehr erschrocken. Ihr solltet euch bei solchen Ausflügen tragbare Akkus zulegen. Eure Stiefmutter ist eine ganz nette. Wusstet ihr, dass euer Vater das am PC sitzen nicht wollte? Die Stiefmutter ist ganz zerknirscht, sie hat nie mit euch darüber geredet. Sie wollte euch das Leben nicht schwer machen. Und sie dachte wirklich, dass ihr Hänsel und Gretel heißt, weil das euer Vater gesagt hat. Ach das hört sich schon sehr doof an. Sie wollte euch nicht ärgern, sie wusste es nicht besser. Jetzt kommt der Hammer: meine beste Freundin ist eure Mutter gewesen. Wir waren in der Schule schon zusammen, auch dann beim Studium. Aber ich wollte das dann nicht fertig machen. Darum wurde ich Street Workerin. Ihr könnt mir glauben, dass ich gestern sehr traurig war, eure Geschichte zu hören und auch, dass eure Mama gestorben ist. Ich mochte sie so gerne und wir haben uns aus den Augen verloren, so konnte ich mich auch nicht von ihr verabschieden, genauso wie ihr zwei.“

Für einen Moment wird auch sie still und hat Tränen in den Augen.  

„Ich bringe euch jetzt erst mal mit dem Auto Richtung Heimat. Ich glaube, ich weiß wo eure Räder stehen. Ich habe euch ein paar trocken Socken eingepackt, dann fahren wir zu euren Zuhause.“

Sie räumen erst einmal die Küche auf, legen die Decken zusammen und dann geht es mit dem Auto in den Wald. Tatsächlich kann Ingrid sehr nahe bei den Rädern hinfahren. Jetzt ziehen die Kinder die trockenen Socken an und ihre Cucks. Ingrid nimmt die Gummistiefel und die nassen Socken mit ins Auto. Sie treffen sich an der Landstraße. Nur noch ein paar Minuten, dann sind sie zuhause.

 Ein halbes Jahr später wohnt Ingrid mit Han und Gret im Elternhaus. Ihr Vater und die Stiefmutter sind wieder weg. Das Lachen ist wieder zurück.