© by Reinhard Schwarz

Bahnreise ins Ungewisse

 

Es war in den 1950er und auch noch 1960er-Jahren üblich, Kinder mit einer „Ferienaktion“ irgendwohin zu schicken. Mein Vater war da höchst erfindungsreich, Freiplätze zu ergattern: Ich erinnere mich an einen „WIJUG-Schein“, der mich offenbar als erholungsbedürftiges, rachitisches Stadtkind aus sozial notleidender Schicht auswies und zu einem solchen Freiplatz berechtigte.

Nach der 2. Klasse Volksschule war daher ich mit mindestens 100 Jungscharbuben in Steinfeld an der Drau auf Ferienlager, untergebracht auf dem Dachboden eines uralten Hauses mitten im Ort; jeden Morgen und Abend gab es militärisches Antreten zum Fahnenappell mit Gebet und Gesang, und das vier volle Wochen lang. Das Essen wurde in einer wackeligen Baracke im Garten eingenommen, unter anderem völlig ungenießbare Gerstlsuppe oder ebensolcher Schnittkäse. Die Gerstln waren schwierig zu entsorgen, ohne dass es die gestrengen Herrn Präfekten merkten, aber der modrige Fußboden und die breiten Fugen darin konnten einiges davon aufnehmen; die Käseblätter verschwanden unauffällig in den Taschen der Lederhose und von dort in ein Garteneck – das Klo erschien mir zu unanständig dafür. Die An- und Abreise erfolgten jeweils mit dem Zug und dauerte den ganzen Tag, daher gab es Jausenpakete und Saft. Dieser wurde in einem Kübel transportiert, der von zwei Gepäckträgern über den Sitzen an langen Stricken baumelte – eine geniale Idee.

Im Jahr darauf war ich mit meinem Bruder Robert im Mandelwandhaus am Hochkönig, mit irgendeinem Wohltätigkeitsverein, dessen Name ich nicht mehr weiß. Auch dort logierten wir auf dem Dachbodenlager, aber die Gruppe war viel kleiner und lockerer, es gab auch kein tägliches Exerzieren oder im Gleichschritt singend durch den Ort Marschieren wie im Jahr davor. Das Haus lag völlig in der Einschicht an einem Bach, es war so gesehen ziemlich paradiesisch. Allerdings waren die meisten anderen Kinder tatsächlich aus den oben erwähnten sozialen Schichten, sodass meine Mutter ob unseres in vier Wochen erlernten neuen Vokabulars fast in Ohnmacht fiel.

Den absoluten Höhepunkt der Glückseligkeit meiner einstelligen Kinderjahre aber erlebte ich im folgenden Jahr, nach der 4. Klasse. Ferienaktion der „Freunde der Osttiroler in Wien“ (oder so ähnlich) in Familien – wir waren also höchstens 20 Kinder im Zug. Ab Lienz stiegen Kinder aus; ein größeres Mädchen und ich blieben über bis Mittewald an der Drau. Das Mädchen verschwand nach dem Aussteigen sogleich im Gasthaus gegenüber dem Bahnhof, denn dort war es im Vorjahr auch schon gewesen. Also stand ich alleine da und wartete. Nach einer Weile kam ein kleiner, alter Mann aus eben diesem Wirtshaus, winkte mich zu sich, sprach irgendetwas Unverständliches und marschierte los, ich mit meinem Rucksack hinterdrein, in der Annahme, dass er dieses gemeint hatte. So war es auch; er brabbelte vor sich hin, während wir über Wiesen und durch den Wald wanderten, einen Bach auf einem schmalen Steg überquerten und drüben vor einem kleinen Häuschen mit Ziegenstall und Autowerkstatt Halt machten. Ich verstand noch immer nichts, was er sagte, aber die alte Frau, die in der Küche werkte, bemühte sich offenbar um eine der der deutschen Schriftsprache zumindest ähnliche Sprechweise. Die vorbereitete Jause milderte ein wenig meine Sorge, ich müsste jetzt 5 Wochen im fremdsprachigen Ausland leben. Und dann kam es: Ich erhielt mein Quartier in einem winzigen Bodenkammerl ganz für mich allein! Zum ersten Mal in meinem Leben ein eigenes Zimmer! Ich war einfach selig.

Die Zeit verging erst langsam, doch die Nachbarskinder waren neugierig und nahmen mich zum Spielen mit; dabei kam ich drauf, dass sie mich problemlos verstanden, ich aber sie nicht. Meine Herbergsmutter merkte das offenbar und gab mir bei jeder Mahlzeit kurzweiligen Sprachunterricht, sodass die Verständigung bald bilateral erfolgen konnte. Ich wollte nie wieder von dort weg.

Da las ich eines Tages in der Zeitung, dass auf einem Spielplatz in der Bezirksstadt Lienz ein ausgemusterter Straßenbahnwagen aus Wien aufgestellt worden sei. Da schlug das Heimweh mit einem Male zu, und ich beschloss umgehend, eine Exkursion zu diesem Wagen zu machen. Da ich außerhalb der Mahlzeiten mein eigener Herr war, ging ich also am nächsten Tag nach dem Mittagessen zum Bahnhof und erwarb eine Fahrkarte nach Lienz und zurück; meine Barschaft reichte gerade. Der Zug bestand aus einer Diesellok und zwei Wagen. Einer davon war ein italienischer, das erkannte ich gleich, obwohl ich diese Type nur auf Fotos gesehen hatte. Es war ein dunkelgrauer „Centoporte“, also ein Wagen ohne Gang, dafür mit vielen Türen  nebeneinander, für jedes Abteil eine auf jeder Seite. Natürlich stieg ich dort ein, wer weiß, wann eine solche Gelegenheit wieder kommt? Ich setzte mich neben die Tür und stellte fest, dass das Abteil auf jeder Seite 3 schmale Fenster hatte: Eines in der Tür und je eines daneben.

Im Abteil saßen auch zwei Frauen, die sich zuerst unterhielten, aber aufmerksam wurden, weil ich natürlich die Mechanik der Fenster ergründen wollte, und mich streng ermahnten, während der Fahrt die Tür ja nicht zu öffnen, und es überhaupt vielleicht besser wäre, wenn ich mich in die Mitte des Abteils setzen würde. Das wollte ich natürlich nicht und setzte mich ganz brav hin. Sie konnten aber noch immer keine Ruhe geben und fragten mich, ob ich denn so arm sei und keine Schuhe hätte. Da fiel mir erst auf, dass ich barfuß unterwegs war, so wie eigentlich immer, außer am Sonntag in der Kirche. Peinlich, und das auf dem Weg in die Stadt!

Dort angekommen, kam ich drauf, dass ich keine Ahnung hatte, wo der Spielplatz sei, und fragte daher alle möglichen Leute, aber niemand hatte von einem Straßenbahnwagen aus Wien gehört. Nach einigem Herumirren beschloss ich schweren Herzens wieder heimzufahren – die Bahnfahrt war es schließlich auch wert gewesen. Und als wir gerade erst losgefahren waren, die Bahnhofsweichen hinter uns gebracht hatten, da fiel mein Blick zufällig aus dem Fenster – und da stand er, rot und weiß und prächtig glänzend, auf einer runden Kiesfläche in einem Park! Der Wiener Wagen! Es gab ihn also doch! Ich danke unserer Bundesbahn  heute noch für ihre Wagenkonstruktion mit den Ausstiegen an den Enden, denn bei einem Centoportewagen hätte ich womöglich wirklich die Tür aufreißen und hinausspringen wollen.

Jemand hat mich anscheinend verpetzt, denn die beiden alten Leute haben mich abends scheinheilig gefragt, wie es denn in der Stadt gewesen sei. Falls ich wieder einmal so einen Ausflug plane, solle ich es ihnen bitteschön schon vorher sagen.

An was man alles denken soll!