© by Wilhelm Maria Lipp

In der Schusterwerkstatt

Die ersten bleibenden Eindrücke in meinem Leben waren Gerüche. – Wobei ich mich an die wirklich ersten Gerüche nicht erinnern kann.

Schon bald nach meinem zweiten Geburtstag wohnten meine Eltern, meine kleine Schwester und ich in einem umgebauten Pferdestall der Gutsverwaltung.In diesem Hof waren ebenerdig ein paar Wohnungen. Es gab damals einen Brunnen mitten im Hof und ein Plumpsklo für alle Familien im rückwärtigen Teil des Hofes oberhalb eines Misthaufens – Ursache mancher Gerüche, aber auch diese haben sich mir nicht so eingeprägt, wie die Schusterwerkstatt, die ebenfalls im Hofe war.

Damals gab es nur wenige Autos, ich kann mich an keines in unserem Hof erinnern, also war der Hof zugleich Spielplatz für den Dreikäsehoch, der ich damals war. Und ich war neugierig. So stand ich Stunden lang in der Schuhmacherwerkstatt von Herrn Fischer, dem „Fischerschuster“ und schaute ihm bei seiner Arbeit zu. Bald wusste ich die Namen der einzelnen Geräte und Werkzeuge, die er verwendete.

Die Gerüche aus der Werkstatt könnte ich heute noch identifizieren. Es duftete nach Leder und es roch ganz besonders, wenn er auf der Maschine die Absätze der Schuhe zurechtschliff, heute weiß ich, dass es nach angebranntem Gummi roch. Der einprägsamste Duft war aber der Schusterleim, der in einer meist oben offenen kleinen Glasflasche aufbewahrt war, in der ein Pinsel zum Auftragen steckte.

Dass Herr Fischer diese Flasche am Ende des Arbeitstages verschloss, muss ich heute annehmen, damals war es mir nicht bewusst. Seine Werkstatt war täglich erfüllt von dem markanten Duft seines Klebstoffes.

Als ich einst auf Kur war und am Kurort spazieren ging, stieg mir der bekannte Duft in die Nase. Da suchte ich den Schuhmacher, der in einer Seitenstraße seine Werkstatt hatte und durch dessen offene Tür der typische Geruch des Klebers meine Nase kitzelte. Ich fühlte mich sofort wohl, behütet und geschützt. Meine Nase hatte die Erinnerung an damals wieder aufleben lassen.