© by Wine Van Velzen

Flips, der Ohrwurm

 

Flips der bunte Ohrwurm kroch an der grauen Mauer hinauf, bis er das geöffnete Fenster erreichte. Neugierig blickte er in den Raum hinein, und sofort sah er ein Klavier, das genau in der Mitte stand. Flips zog seinen langen, dünnen Körper zusammen, dass er wie eine Kugel aussah und sprang vom Fenstersims hinunter, auf den polierten Parkettboden. Wie ein Gummiball kugelte und rollte er und hopste auf und ab, bis er schließlich zum Stehen kam. Der kleine Ohrwurm schüttelte sich, reckte und streckte seine bunten Glieder. Ohrwürmer gab es viele auf der Welt, jeder hatte eine andere Farbe. Da gab es die Schwarzen und Dunkelfarbigen. Die liebten düstere Musik und krochen flink in die Ohren der Menschen, wenn sie traurig waren. Flips mochte die roten und blauen Ohrwürmer lieber, waren sie doch oft lustig und immer gut gelaunt. Sie schmiegten sich an den Menschen, bis sie vor Glück lachten und weinten. Doch seine besten Freunde waren die Violetten, die Gelben und die Grünen. Mit ihnen hatte er auf Veranstaltungen, Festen und Partys schon viel Spaß gehabt. Sobald die bunten Ohrwürmer auftauchten und in die Ohrmuscheln der Menschen sprangen, wurde gesungen, gepfiffen, gelacht und getanzt.

 

Flips sah sich in dem Raum um.

 

»Wow! Ich glaube, ich bin im Schlaraffenland für Ohrwürmer gelandet«, flüsterte er ergriffen.

So viele Musikinstrumente gab es zu bestaunen. Nicht nur das Klavier stand da, auch ein Cello auf einem Ständer gab es und ein Schlagzeug. Flöten, Geigen und eine Trompete lagen in ihren geöffneten Koffern und glänzten um die Wette. Als die Tür sich öffnete, versteckte sich Flips schnell unter dem Klavier. Mädchen und Jungen traten in den Musiksaal und setzten sich auf die aufgereihten Stühle. Timo griff sich die Schlagstöcke und nahm hinter dem Schlagzeug platz.  Doro, mit den langen blonden Zöpfen winkte Timo und Hanna kurz zu, bevor sie die Geige aus dem Kasten nahm. Flips beobachtete die Menschenkinder ganz genau und wagte sich aus seinem Versteck. Er kroch am Stuhlbein hoch, sprang auf die Tasten und robbte hinter die Musiknoten. Herr Fridolin kam mit großen Schritten und fliegenden Haar herein und klatschte in die Hände. Sofort trat Stille ein und die Kinder sahen den Lehrer abwartend an.

 

»Die Aufführung ist in zwei Wochen«, erklärte er. »Hanna, Patrizia und Ben, ich hoffe, die Liedertexte sitzen und ihr könnt sie fehlerfrei singen.«

 

Die beiden Mädchen und der Junge nickten nervös. Die Schüler hatten viel geübt, nur Hanna hatte noch immer Schwierigkeiten, sich den Text zu merken. Flips konnte das ganz genau wahrnehmen, schließlich war er ein Ohrwurm. Das Mädchen biss auf ihre Lippen und ihre Finger hielten verkrampft die Blätter fest, auf denen die Liedertexte standen. Ihre Stimme war die schönste in der gesamten Schule, deshalb wurde sie von dem dünnen Musiklehrer ausgewählt. Von ihrer Schwierigkeit sich Texte zu merken, wusste er da noch nichts. Er hoffte, dass Hanna die Lieder bis zur Aufführung fehlerfrei singen konnte. Ungern würde er sie ausschließen, aber wenn sie es nicht schaffte, müsste der Lehrer sich nach einem Ersatz umsehen.

 

»Dann wollen wir mal beginnen«, rief Herr Fridolin und setzte sich an das Klavier.

 

Die Kinder nahmen ihre Instrumente in die Hände und hier und da erklang ein Ton. Timo schlug einen Trommelwirbel und Herr Fridolin lachte laut. Er mochte den fröhlichen Jungen, der immer einen coolen Spruch auf den Lippen hatte. Doro legte den Kopf zur Seite und klemmte sich die Geige unters Kinn. Ben räusperte sich und atmete tief ein. Gleich nach den ersten Takten hatte er seinen Einsatz. Flips lauschte der Melodie und dem Gesang und wippte mit seinem Schwanzende im Takt mit. Dann begann Hanna zu singen. Da Hanna vom Blatt ablas, lief alles gut und Herr Fridolin war mit ihrem Gesang zufrieden. Nach zwei Stunden war die Probe beendet und die Schüler verstauten ihre Instrumente, legten die Notenblätter in die Koffer und nahmen sie mit nach Hause.

 

Hanna, Doro und Timo wohnten in derselben Straße. Doro hielt ihren Geigenkoffer in der Hans, Hanna den Ordner mit den Liedertexten. Timo hatte in der Garage ein Schlagzeug stehen, auf dem er spielen konnte und fragte die Mädchen, ob sie noch eine Stunde mit ihm in die Garage üben wollen. Er wusste, wie schwer es für Hanna war, sich die Texte zu merken und wollte ihr gerne helfen. Dasselbe hatte sich auch Flips der Ohrwurm gedacht, als er nach der Probe in Hannas Jackentasche sprang. Flips fand, das Mädchen hatte eine sehr schöne Stimme und es wäre doch zu schade, wenn man sie auswechseln würde. Da er ein Ohrwurm war, würde Hanna sehr schnell die Texte lernen. Flips würde in ihr linkes Ohr krabbeln und den ganzen Tag vor sich hinsingen. Am Abend begann er mit seiner Arbeit.

 

Hanna hörte ständig die Lieder in ihrem Ohr und summte und sang sie leise mit. So ging es dann tagein, tagaus. Flips sang ununterbrochen die Texte, die Hanna auswendig lernen musste.

 

Dann war es so weit. Die Aufführung hatte Premiere. Schüler, Lehrer, Eltern, Großeltern und Freunde saßen auf den Plätzen, als sich der Vorhang hob. Herr Fridolin zählte von vier auf eins herunter, dann begann Timo mit seinem Trommelwirbel. Die Geigen, die Trompete, das Cello und die anderen Instrumente setzten ein. Herr Fridolin ließ seine Finger über die schwarzen und weißen Tasten fliegen. Flips schaute aus Hannas linkem Ohr heraus.

 

»Wow, so viel Zuschauer«, staunte der kleine bunte Ohrwurm und kitzelte mit seinem Schwanz, Hannas Trommelfell.

 

Das Mädchen hatte die Augen weit aufgerissen und zitterte ein bisschen, als sie zu den Menschen hinuntersah.

»Hoffentlich vergesse ich die Texte nicht«, stöhnte sie leise und atmete tief durch.

Flips bemerkte ihre Angst und sofort begann er zu summen, um sie zu beruhigen.

 

Hell und klar sang Hanna mit ihrer kräftigen, schönen Stimme, Strophe für Strophe, Lied für Lied. Kein Patzer, kein schiefer Ton war zu hören. Die Aufführung war ein voller Erfolg und Herr Fridolin war mächtig stolz auf seine Schüler. Am Ende sprangen die Zuschauer von den Stühlen, klatschten und jubelten ihnen begeistert zu. Die Kinder und Herr Fridolin verbeugten sich mehrmals vor dem Publikum, bis der Vorhang fiel.

Doro und Timo liefen zu Hanna und umarmten sie.

»Du warst großartig«, riefen sie freudestrahlend.

 

Hanna war überglücklich. Dann kam Herr Fridolin und reichte ihr feierlich die Hand.

 

»Das war famos, Hanna.«

Er drehte sich zu den anderen Künstlern:

»Ihr alle seid hervorragend gewesen, ich bin mächtig stolz auf euch.

 

Flips, der kleine bunte Ohrwurm krabbelte aus Hannas Ohr. Draußen traf er die grünen, gelben und die violetten Ohrwürmer. Was Flips dann erlebte, wird nicht verraten. Denn das ist eine andere Geschichte.