© by Michaela Lipp

Später am Tag

 (Aus dem Jugendroman „Gut Regenbogen“ über Hexen, Zauberer, Einhörner & Co)

Lica weckt mich ein paar Stunden später. Es wird gerade dunkel, und ich habe das Mittagessen verschlafen.

Das Abendessen ist gleich fertig, ich rapple mich hoch. Nichts davon ist mehr wichtig, nur das eine: Ich habe Einhörner gesehen und zwar diese seltenen, faszinierenden schwarzblauen Einhörner. Ich will das wieder erleben. Lica hat inzwischen erfahren, dass sich eine Schlange auf mich fallen lassen wollte, aber auch dass ich es überlebt habe. Ganz aufgeregt ist sie, ich winke ab, es geht mir gut, nur der Schrecken hat mir die Füße weggezogen. Keinen Stress, keine Aufregung.

Wieder mag ich nicht über meine Begegnungen reden, und so schweige ich am Abend beim Essen.

Am nächsten Tag, als ich aufstehe, gehe ich hinter unser Zelt, ich will mich erleichtern. Als ich -natürlich nicht ohne zuvor die Umgebung zu kontrollieren- so am Boden hocke, fallen mir Pilze auf. Schwarzblau mit einigen Schimmeltupfen, die leicht golden schimmern.

Ich ziehe mir die Hose hoch, diese Pilze habe ich noch nie gesehen. Sie sehen von oben den europäischen Fliegenpilzen sehr ähnlich, aber eben in einer anderen Farbe.

Als ich stehe und die Hose schließe, sehe ich die Pilze nicht mehr. Ich beuge mich hinunter, ja da sind sie. Einen Schritt nach links, hinunter bücken, nichts, nach rechts, auch noch mal hinunter gebeugt, auch nichts, nur fester Inselboden.

Wieder schaue ich zurück. Ich sehe die Pilze nur, wenn ich kurz davor stehe.

Ich überlege, woher die kommen können. Zu dieser Stelle hatte ich die übrigen Pferdeäpfel geworfen. Ist das die Lösung, nach der diese ganze Forschergruppen seit Jahren sucht? Meine Gedanken spielen Karussell, hüpfen im Dreieck über ein Trampolin und schlagen laufend Saltos. Ich kann mich kaum noch konzentrieren. Ich muss mich bewegen. Mein Notizbuch habe ich dabei, so laufe ich wieder los, weiter, immer weiter.

Archimedes sagte einmal: „Heureka- ich habe es gefunden!“

Ich möchte kreischen, schreien, laut sein, dann wieder schweigen. Gut, dass ich alleine bin. Jetzt sieht mich niemand. Meine Tränen und ich laufen um die Wette. Erst einige Zeit später bleibe ich stehen. Atemlos vor Glück, aber auch vor Anstrengung. Ich setze mich bei einer Lichtung hin. Es dauert eine gewisse Zeit, bis ich meine Umgebung wieder höre, wieder wahrnehme. Die Vögel, die in den Bäumen die seltsamsten Töne von sich geben. Die Affen, die kreischend durch den Wald toben. Immer besser höre ich jetzt alles. Jetzt, wo mir das Blut nicht mehr durch die Ohren jagt. Auch erkenne ich jetzt wieder meine Umgebung. Die Insekten, die mich nicht mehr beißen, die Schmetterlinge in den schönsten Farben, die mich umschwirren. Und als meine Blicke weiter gehen, bemerke ich, dass ich sehr weit gelaufen sein muss. Ich kenne mich nicht mehr aus. Blöde ist das jetzt, ich habe so eine tolle Entdeckung gemacht, und jetzt sitze ich hier im Irgendwo. Und die Erde ist nicht weich, nicht mal anhand meiner Schuhabdrücke würde ich zurückfinden.

Ich drehe mich im Kreis und sehe keine Abdrücke in der Erde. Ein paar niedergetretene Äste und Grashalme. Ich versuche, ihnen zu folgen. Aber dieser verflixte Urwaldboden ist tückisch. Es knackt und knirscht, und bemerke irgendwann, dass ich im Kreis gelaufen bin. Ich bin wieder an dieser Lichtung. Blöde, dass ich mich nicht immer so gut an Regeln halten kann. Ich schaue, was ich dabei habe: Natürlich keine Wasserflasche, keinen Riegel zum Essen, keinen Kompass, wobei ich eh nicht weiß, woher ich gekommen bin. Mein Handy! Liegt im Zelt. Nur das Notizbuch habe ich. Ich setze mich hin, was soll ich jetzt tun? Ruhe bewahren. Klar, wenn das so einfach wäre! Ich fühle die Panik wieder hochkommen, sie beißt sich an mir fest.

NIX! Geh weg! Dich kann ich jetzt nicht brauchen!

Ich atme ruhig durch, bleib vernünftig Mädel. Zwar bin ich eine Hexe, aber was soll ich mir jetzt *hexen*? Mein Vogel wäre nützlich, mein Rabe Azra, den ich nicht mitnehmen durfte. Ihm die Quarantäne zuzumuten, das wollte ich nicht. Nein, er ist bei Walburga, meiner Mama, besser aufgehoben.

Ich denke ganz fest an mein Tier, da höre ich ein vertrautes Krächzen am Ohr, und eine zarte Berührung am Ohrläppchen. Ich dreh den Kopf kaum, denke noch: „Wo kommst du denn her?“, da höre ich in meinem Kopf eine raue Stimme:

„Krächz! Du hast mich doch gerufen, da bin ich. Ach mein richtiger Name ist Munin.“

Mir gehen viele Gedanken durch meinen Kopf? Wie kommt Azra, nein Munin, hier her? Wie kann er mir helfen? Wieso bin ich hier und habe mich verirrt? Wie ich komme aus dem Dschungel heraus? Aus dieser Misere hier? War Munin nicht einer der Raben von Odin?

Wieder höre ich die Stimme des Raben im Kopf:

„Krächz, langsam Hexchen, ich muss mich erst orientieren. In deinem Kopf und in dieser Umgebung. Dass du diese Hitze aushältst? Ich fasse zusammen: Du hast die Einhörner gesehen und die Pilze. Du bist losgerannt und jetzt hier und verzweifelt.“

Der Rabe sitzt auf meiner Schulter, und ich höre ihn, als ob er mit mir spricht. Er holt mich aus meiner Panik zurück, und ich kann etwas ruhiger atmen und auch denken.

„Krächz, gut so, jetzt ist es besser, atme ruhig durch, und dann denken wir gemeinsam nach.“ Ich nicke und setze ich mich hin.

„Krächz, und ja, um eine deiner vielen Fragen zu beantworten: Ich stamme aus direkter Linie von Munin, dem Ersten, ab. Zeige mir nochmal deine Erinnerungen an die Pilze!“

Sofort habe ich die schwarzblauen Pilze vor den Augen. Die mit den goldschimmernden Tupfen. Mumins Krallen lösen sich von meiner Schulter, und er fliegt weg. Ich drehe mich langsam um, da sitzt er auf dem Boden und kommt gleich wieder zurück.

„Krächz, öffne den Mund!“, höre ich ihn wieder in meinen Kopf. Ich zögere nicht einen Moment und öffne den Mund. Einen kurzen Augenblick später schmecke ich etwas auf der Zunge. Aber bevor ich den Geschmack zuordnen kann, ist er wieder weg. „Krächz, schließe die Augen“. Munin ist noch da. Ja, ich folge seinen Anweisungen.

„Krächz, los aufmachen!“ Wieder höre ich auf meinen Raben. Mir gegenüber steht ein schwarzblaues Einhorn. Ich kann das jetzt nicht glauben, sofort mache ich die Augen wieder zu.

„Krächz, mach deine Augen auf, da steht dein Einhorn tatsächlich.“ Munin lacht sein Rabenlachen in meinem Kopf.

Und es steht da und schaut mich an. Es könnte wirklich das Einhorn sein, das ich schon gesehen habe. Wieder strecke ich die Hand aus, um es zu streicheln. Die Nasenlöcher, die Nüstern fassen sich so weich an. Noch immer bin ich überwältigt von den Empfindungen. Ob mir das Einhorn es übel nehmen wird, wenn ich es auch an der Stirn und den schönen haarigen Ohren berühre?

„Nein, fass nur hin, ich tue dir nichts!“, klingt eine wunderschöne Stimme in meinem Ohr. Ich sehe Munin an, der lacht. Jetzt falle ich auf meinen Po vor lauter Schreck. Ich schlucke, habe Gänsehaut, einen trockenen Mund und weiche Knie. Ob mein Gott, träume ich? Was ist das nur für eine Situation?

„Du hast mich doch schon gesehen, und ja, ich kann das auch, was dein Freund, der Rabe, kann. Ich war die ganze Zeit bei dir. Kein anderes Tier durfte dir zu nahe kommen. Ich habe aufgepasst. Solche Hexen wie du sind selten, da sind alle magischen Tiere sehr auf deine Sicherheit bedacht. So, dass du dich etwas beruhigst, steige auf, ich bringe dich zu deinem Schlafplatz.“

Ich denke noch: „Ich kann doch gar nicht reiten“, da ist Munin in meinem Kopf:

„Krächz, steige auf den Baumstumpf da neben dir, und dann geht das schon.“

Ich rapple mich hoch und steige auf den Stumpf. Das Einhorn kommt näher, noch immer habe ich keine Angst. Ehrfurcht ist das richtige Wort. Umständlich steige ich auf das Einhorn. Klar habe ich schon mal gesehen, wie man reitet, aber ich selbst bin noch nie geritten.

„Krächz, stell dich nicht so an“, höre ich Munin. Und das Einhorn meldet sich auch:

„Lehne dich nach vorne, dann kannst du dich an meinem Hals festhalten, du musst mir dann keine Haare rausreißen.“

Kaum sitze ich und halte mich fest, geht es los. Es ist ein tolles Gefühl. Da ist ein lebendiges Wesen unter mir, und ich fühle jede Bewegung. Das Muskelspiel, die Kraft. Wieder bin ich überwältigt von meinen Emotionen. Ich fühle Munin auf meinem Rücken, er ist auch in meinem Kopf: „Krächz, Hexchen! So fühle ich mich, wenn ich auf deiner Schulter sitze. Nichts Besonderes also.“

Und das Einhorn sagt: „Du kannst ja selbst fliegen, du Federwisch.“ Wir sind in einem relativ langsamen Tempo unterwegs. Ich liege fast auf dem Einhorn, mit dem Fingern befühle ich den Rücken und die Seiten nach. Jeder Schritt verändert die Muskeln unter mir. Es ist ein besonderes Gefühl. Diese Bewegungen, diese Wärme. Das schwarze Fell schimmert so wunderschön. Die Haare da am Hals, die so abstehen, die Mähne, ich taste darüber. Die Haare sind viel stärker, als die der Menschen. Ich zupfe vorsichtig daran. Da wackelt auf einmal die ganze Mähne. Ich höre wieder diese sanfte Stimme in meinem Kopf:

„Du kitzelst mich! Übrigens, ich heiße Sleipnir.“ Sofort höre ich auf, will mich entschuldigen, jetzt ist Munin in meinem Kopf:

„Krächz, nicht entschuldigen, Hexchen, du weißt es ab jetzt. Fertig!“

Was für eine Erfahrung, auf einmal noch zwei Stimmen, zwei Persönlichkeiten im Kopf zu haben.

„Krächz, jetzt willst du den anderen von den Pilzen und den Einhörner erzählen?“, krächzt Munin wieder los.

„Krächz, hast du dir einmal die Konsequenzen für die Einhörner überlegt? Eventuell werden sie dann gejagt, ausgenutzt, ihre Hörner sehr teuer verkauft. Und vielleicht wollen die das ja gar nicht. Es wird schon seinen Grund haben, dass sie so lange unsichtbar sind.“

Auch mir ist der Gedanke schon gekommen, dass ich nichts sagen sollte, aber warum sehe gerade ich die Einhörner als einzige hier?

„Krächz, als einziger Mensch hier?“

„Weil wir das wollten, Hexe. Du bist eine besondere Hexe. Mit deiner Hilfe werden wir von der Insel in eine andere, sichere Umgebung kommen. Hier wird es immer heißer.“

„Krächz!“

„Ja, ich bleibe schon stehen. Hier kann unsere Hexe absteigen und noch mit uns reden. Den Rest des Weges findet sie alleine zurück. Munin, du solltest auch unsichtbar bleiben. Sonst wirst du gefangen und gefoltert. Wahrscheinlich rupfen sie dir die Federn einzeln aus, dass du uns und alles Mögliche verratest.“

„Krächz, du hast Recht.“

Inzwischen bin ich vom Einhornrücken heruntergerutscht. Ich stehe am Boden, und meine Beine zittern so sehr, dass ich mich hinsetzen muss. Wie bei einem Ping- Pong-Spiel schaue ich von dem einem Tier zum anderen, magische Wesen trifft es besser. Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Ob ich mit jemandem darüber sprechen sollte?

„Krächz! Mit Walburga und Angelica natürlich, vor denen kannst du sowieso nichts verbergen. Du lügst grauenhaft. Vergiss auch nicht dein Notizbuch mit einem Zauberspruch zu sichern, du weißt nie, wer neugierig stöbern kommt!“

„Ja, das sind gute Lösungen, was braucht ihr, was wollt ihr, wie kann ich helfen?“, bringt sich Sleipnir ein. In meinem Kopf spielen jetzt die Gedanken Spiele. Sie springen hin und her. Mir wird ganz schwindelig und …

 

„Celina!“, meine Tante steht über mir und tröpfelt mir Wasser auf die Lippen. Ich rapple mich auf.

„Du bist hier gelegen, ich habe dich schon lange gesucht. Gottseidank jetzt auch gefunden. Hattest du kein Wasser dabei gehabt?“ Sie überschüttet mich mit Fragen und mit ihrer Fürsorge. Dann bringt sie mich auf die Füße und darauf mit der Hilfe von ein paar anderen Menschen ins Zelt. Wieder schlafe ich ein. Zu viele Informationen spielen gerade jetzt in meinem Kopf Karussell.