by Claudia Dvoracek-Iby

Flora und die Krähe

Wie jeden Morgen geht Flora nach dem Frühstück in den Garten, obwohl es eigentlich schon Zeit wäre, sich auf den Weg zur Schule zu machen. Langsam spaziert sie den schmalen Kiesweg entlang, der durch den vorderen Teil des Gartens führt, streckt die Arme links und rechts von sich, und lässt ihre Hände sanft über die Zweige und Blätter der Sträucher und Büsche, die den Weg säumen, streichen. Flocke, ihr kleiner Malteserhund, läuft wie immer vergnügt voraus, seine Ohren flattern dabei lustig, und sein weißes Fell glänzt in der Morgensonne.

Auf der großen Wiese im hinteren Teil des Gartens lässt sich Flora unter ihrem Lieblingsbaum, einem großen Kirschbaum, nieder, und lehnt sich mit dem Rücken an seinen Stamm. Flocke springt übermütig auf ihren Schoß, schleckt ihr über das Kinn, flitzt dann wieder davon. Flora muss lachen, und sieht ihrem Hund zu, wie er an Sträuchern schnuppert und sich genüsslich im Gras wälzt, sich dann hinsetzt, und aufmerksam ein paar Singvögel, die laut zwitschernd in einer Hecke sitzen, beobachtet.

‚Flocke liebt unseren Garten ebenso sehr wie ich‘, denkt Flora, ‚er würde wohl um nichts in der Welt wieder zurück in die alte Stadtwohnung wollen.‘

Flora und ihre Familie sind erst vor ein paar Wochen hierher, in das Haus mit Garten am Stadtrand, gezogen. In der Innenstadtwohnung ist es nämlich viel zu eng für sie geworden, seitdem vor knapp zwei Jahren die Zwillinge, Finn und Ilvy, auf die Welt gekommen sind. Und auch wenn der Umzug anstrengend, und vor allem der Schulwechsel für Flora nicht einfach gewesen ist – Flora würde nicht mehr tauschen wollen, sie ist glücklich hier. Sachte fährt sie mit ihrer Hand über das weiche Gras neben ihr. Ein Marienkäfer krabbelt auf ihre Hand, und wandert ihren Zeigefinger entlang. Als er ganz oben angekommen ist, öffnet er seine gepunkteten Flügel und fliegt davon.

Flora schließt die Augen, und seufzt tief auf. ‚Wenn es doch nur schon Mittag wäre, und die Schule vorbei‘, denkt sie sehnsüchtig. Abgesehen davon, dass Flora noch mit niemandem in der Klasse so richtig befreundet ist – sie kennt ihre neuen Mitschüler ja erst seit kurzem – liegt ihr das Referat, das sie heute halten soll, im Magen. Das Thema lautet: „Ein Raum, in dem ich mich wohlfühle.“ Flora hat vor, über ihr Mansardenzimmer zu referieren, in dem sie sich ja auch tatsächlich sehr wohlfühlt. Das Problem ist jedoch, dass ihr nicht viel zu dem Thema einfällt. Ihr Zimmer ist in wenigen Sätzen beschrieben, da gibt es nicht viel zu erzählen und zu erklären.

Sie denkt an Leons Referat, das er vorgestern gehalten hat. Sehr ausführlich hat er über den digitalen Raum gesprochen – den Raum, in dem er sich wohlfühlt. Leon hat viele englische Wörter und Fachausdrücke verwendet. Flora hat einiges nicht verstanden, und zwar deswegen, weil sie sich für die digitale Welt noch nie sonderlich interessiert hat. Anders als viele in ihrem Alter verbringt sie wenig Zeit am Handy und im Internet. Flora ist lieber draußen in der Natur, in der es so viel Spannendes, Schönes und Interessantes zu erleben und zu entdecken gibt. Der totale Gegensatz also zu Leons Welt, von dessen Referat jedoch alle außer Flora begeistert gewesen sind.  

‚Und heute bin ich dran mit dem Referat, und wahrscheinlich werde ich wie ein Kindergartenkind wirken, wenn ich mein Zimmer beschreibe. Hoffentlich lachen sie nicht über mich‘, denkt Flora bedrückt.

Da fällt plötzlich etwas Glänzendes, Hartes von oben hinunter auf ihren Schoß. Es ist ein wunderschöner ovaler bunter Stein. Verwundert blickt Flora hinauf zur Baumkrone, und sieht eine Krähe auf einem der unteren Äste sitzen. Die Krähe hält ihr Köpfchen schief und guckt zu ihr runter.

Flora muss lachen: „Ist dieser schöne Stein von dir?“

Und die Krähe antwortet: „Krah! Krah!“, was sich wie „Ja! Ja!“ anhört, spannt ihre schwarzgrauen Flügel, flattert ein wenig, bleibt aber sitzen.

Vorsichtig nimmt Flora den Stein in die Hand, hält ihn gegen das Sonnenlicht und staunt. Er glänzt durchscheinend in allen Regenbogenfarben. Noch nie hat sie einen so besonderen Stein gesehen. Versonnen betrachtet ihn Flora, und lächelt vor sich hin.

„Das ist aber nett von dir, du lieber Vogel“, sagt sie dann zur Krähe auf dem Baum.

„Flora, Kind, wo bist du denn!“, hört sie ihre Mutter rufen. „Höchste Zeit, du musst los!“

„Ja, Mama, ich komme ja schon!“

Flora erhebt sich, den wunderschönen Stein fest in ihrer Hand haltend.

„Danke, Krähe, dein Stein wird mir bestimmt Glück bringen heute. Aber warte kurz, ich habe auch etwas für dich.“

Schnell läuft sie zur Scheune, greift in den Sack mit Vogelfutter, den sie erst kürzlich mit ihrem Vater gekauft hat, läuft wieder zurück und streut eine Handvoll Sonnenblumenkerne auf den Boden unter den Kirschbaum. Sofort lässt sich die Krähe zu ihren Füßen nieder und pickt sie auf.

„Flora, komm jetzt endlich!“ Die Stimme ihrer Mutter klingt nun schon sehr ungehalten. Flora vernimmt auch das fröhliche Geplapper ihre kleinen Geschwister, die inzwischen offensichtlich aufgewacht sind, und hört Finn laut sagen: „Flori muss snell Sule gehn!!“

„Ja, ja, ich bin ja schon unterwegs!“ –

 

Und dann ist es auch schon wieder Nachmittag. Flora spielt mit den Zwillingen Fußball im Garten, sie kreischen und lachen viel, vor allem auch, weil Flocke ihnen immer wieder den Ball wegnehmen will. Als Ilvy und Finn wieder im Haus sind, um zu jausnen, setzt sich Flora so wie am Morgen unter ihren geliebten Kirschbaum, schließt die Augen und denkt an den Vormittag in der Schule. Sie kann noch immer kaum glauben, wie gut alles gelaufen ist.

Anfangs ist sie sehr nervös gewesen, als sie ganz allein vorne vor der ganzen Klasse gestanden ist. Sie hatte keine Unterlagen, keinerlei Notizen für ihr Referat in den Händen. Nur den Glücksstein, den ihr die Krähe am Morgen geschenkt hatte, hielt sie in ihrer Hand.

„So, Flora, bitte beginne mit deinem Referat. Wir sind schon sehr gespannt“, hat der Lehrer gesagt.

Und Flora hat fest ihren Stein gedrückt, tief Luft geholt und dann einfach zu sprechen begonnen. Sie sagte, dass sie ihren ursprünglichen Plan, ihr Zimmer zu beschreiben, am Morgen kurzfristig geändert hat. Denn am allerliebsten halte sie sich im Garten auf, und der Garten ist ja schließlich auch Raum. Sehr viel Raum sogar. Dann erzählte Flora von ihrem Umzug, und dass sie anfangs gar nicht davon begeistert gewesen ist. Sie wäre am liebsten in ihrer vertrauten, gemütlichen Wohnung in der Innenstadt geblieben. Doch das änderte sich, als sie begonnen hatte, gemeinsam mit ihren Eltern den verwilderten großen Garten in ihrem neuen Zuhause herzurichten. Sie haben gemeinsam Unkraut gejätet, Bäume und Sträucher beschnitten, Gemüse und Pflanzen eingesetzt. Und da habe sie sich völlig in den Garten verliebt. Es sei einfach so herrlich, in der Wiese zu liegen und zu lesen, oder auf Bäume zu klettern. Und es mache so viel Spaß, mit den kleinen Geschwistern draußen Fangen oder Ball zu spielen, und mit ihrem Hund herumzutoben. Sie beschrieb ihren Mitschülern all die Insekten und Schmetterlinge, die sie im Laufe der Zeit beobachtet hat, und dass sie einmal sogar eine Eidechse entdeckt hat. Sie schwärmte vom wunderschönen Sternenhimmel und dem Grillenzirpen in der Nacht. Dann zählte sie all die verschiedenen Vogelarten auf, die sich im Garten aufhalten, und dass sie im Winter mit ihrem Vater ein großes Futterhaus für die Vögel bauen und aufstellen würde. Und schließlich erzählte sie ihren Mitschülern, die mucksmäuschenstill waren und fasziniert zu lauschen schienen, wie sie heute Morgen unter dem Kirschbaum gesessen ist und wie die Krähe –

„Krah! Krah!“ unterbricht ein lauter Ruf Floras Gedankenfluss. Sie sieht hinauf in die Baumkrone und da sitzt die Krähe wieder auf demselben Ast, auf dem sie am Morgen gesessen ist.

„Oh, da bist du ja, Krähe“, lacht Flora. „Ich habe gerade an dich gedacht. Weißt du, ich habe heute in der Schule von dir erzählt, und dass du mir einen wunderschönen Stein geschenkt hast. Am Ende meines Referates habe ich ihn hergezeigt, und alle haben ihn bewundert. Und stell dir vor, allen hat mein Referat über den Garten gefallen! In der Pause hat Leon mir erzählt, dass er in einer kleinen Wohnung ohne Garten lebt und vielleicht auch deswegen so viel Zeit im Internet verbringt. Und Sara, die ich vom ersten Tag an sehr nett gefunden habe, hat gesagt, dass sie mich sehr gerne einmal in meinem schönen Garten besuchen würde. Da habe ich sie und Leon eingeladen. Wir haben ausgemacht, dass sie Samstag nachmittags zu mir kommen. Wir werden Federball spielen und ein Picknick hier unter dem Baum machen. Ist das nicht schön? Und, Krähe, was ich dich fragen will: Möchtest du vielleicht auch den beiden einen Glücksstein schenken? Du bekommst dann natürlich etwas besonders Gutes von mir, Erdnüsse und ähnliches. Was meinst du, machen wir das so?“

Und die Krähe antwortet laut und flügelschlagend: „Krah! Krah! Krah!“, und Flora versteht ganz deutlich: „Na klar! Ja! Ja!“