© Michaela Lipp

 

Aufbruch

 

Meine Mama ist die Beste. Sie bringt mir jeden Tag das leckerste Essen, welches man sich vorstellen kann, direkt ans Bett. Mir und meinen doofen Geschwistern. Sie sind ein wenig älter als ich. Ich bin die Jüngste. Ach ja und der Herr Vater bringt natürlich auch Essen. Zwar eher selten und dann auch nur den anderen, die mich immer wegschupsen. Ich bin schon die Kleinste, die anderen drücken mich immer nach unten, und dem Herrn Vater fällt das gar nicht auf. Aber meine Mama ist klasse. Die achtet auf mich. Die ist auch schlau, die kann zählen. Und die kennt mich und übersieht mich nicht.

Unsere Ausscheidungen bringen die Eltern auch weg. Da ist es egal, von wem etwas ist. Da merkt das der Herr Vater auch nicht, ob da etwas von mir dabei ist. Manchmal denke ich, ich sollte einen besonderen Stinker hinlegen, so dass er es merkt. Die älteren Geschwister sind da viel duftintensiver als ich. Ach es ist manchmal blöde, das Kleinste in der Familie zu sein. Manchmal wünschte ich mir, ich wäre ein Einzelkind.

Die Großen machen jeden Tag Gymnastik, als ob es nichts Wichtigeres gäbe in dieser Welt. Oft bekomme ich einen Stoß ab, wenn ich zu nahe bin. Oder gar einen Schlag. Dann kuschle ich mich ganz tief ins Bett, so dass sie mich nicht treffen.

Nachts höre ich unseren Eltern zu. Sie sprechen von Trennung und das ganz bald. Ich glaube, sie werfen uns raus. Sie wollen beide alleine sein. Mama sagt: „Gut, die Kinder sind bald erwachsen, dann geht jeder von uns seinen eigenen Weg. Sie tragen schon die Kleidung der Erwachsenen.“ „Mama!“, will ich sagen, „Mama, ich darf doch bei dir bleiben?“ Aber dann lasse ich es sein. Dieser Luxus, jede Mahlzeit ans Bett zu bekommen, wird wohl bald enden. Ich will aber keine Prinzessin sein, wenn ich gehen muss. Ich will einfach hier bleiben.

Übermorgen sagen die Eltern, übermorgen gibt es eine Überraschung. Ich schlucke, wir werden rausgeschmissen, ganz bestimmt, ich fühle es.

Am nächsten Tag machen die Großen wieder Gymnastik. Strecken, beugen, strecken, beugen. Ich mache mich so klein, wie ich kann. Sonst fange ich wieder ein paar Schläge ein. Mama bringt besonderes Essen. Eiweißreiches. Der Herr Vater sagt: „Das braucht ihr, haut ordentlich rein. Groß und kräftig, so mag ich meine Kinder.“ Wieder bekomme ich die kleinste Portion und wieder nur von Mama. Wir gehen bald schlafen. „Dass ihr morgen ausgeschlafen seid!“ Sie sehen sich verschwörerisch an. Ich fühle ihre Blicke auf mir ruhen.

Der nächste Tag. Es ist schon hell, die Vögel singen, und meine Eltern stehen am Rand unserer Wohnung. Einer nach dem anderen werden meine Geschwister hinausgeschmissen. Sie breiten ihre Arme aus und sind bald nicht mehr zu sehen. Ich fühle, wie die wärmende Federdecke über mir immer dünner wird.

Jetzt bin nur noch ich zuhause. Der Herr Vater zwickt mich in den Po. „Aua!“, dann zwickt er mich ein zweites Mal. „Oh Gott, ich will nicht ausziehen müssen.“ Hilfesuchend schaue ich Mama an, die dabei sitzt. Sie hat die Augen weit offen, aber sie hilft mir nicht, sie nickt nur aufmunternd. Ich stehe am Abgrund, und der Herr Vater zwickt mich noch einmal kräftig in den Po. Vor lauter Angst gehe ich noch einen Schritt weiter nach vorne, und jetzt falle ich.

„NEIN! MAMA ich falle!“ Ich schreie, brülle, zapple herum. Dann ist meine Mama bei mir. Sie ruft mir zu: „Breite die Arme aus, meine Kleine. Du kannst das. Du hast jetzt das Kleid der Erwachsenen bekommen, richtige Flugfedern!“ Ich taumle, alles geht blitzschnell. Der Boden rast auf mich zu. Warum müssen wir auch in der obersten Etage, mitten im Wald wohnen? Ich schreie weiter vor Angst, und jetzt höre ich die Rufe von Mama: „Los, die Arme ausbreiten!“ Ich mache, wie sie mir sagt, ich breite die Arme aus, und mein Fall wird sofort gebremst. Ich spüre die Luft, den Wind zwischen meinen Fingern. Ich fühle mich hin und her gebeutelt, und dann stabilisiert sich mein Fall, verändert sich. Das Wackeln hört auf.

Mama ist neben mir, und ich sehe sie lächeln. „Du kannst es doch. Auch du wirst bald ein großer Sperber sein, wie dein Vater und ich. Lerne jetzt mit den Flügeln umzugehen. Du spürst das Fliegen am ganzen Körper, und du wirst sehen, es macht dich glücklich.“ So voller Zuversicht schlage ich mit den Flügeln, dabei dreht es mich nach links, dann nach rechts. Mama sagt: „Gleichmäßiger, meine Kleine. Fühle den Wind!“ Ich tue, was ich gesagt bekomme, und es ist toll. Einfach herrlich! Ich fliege nach oben und sehe unten die Welt. Ich bin schon viel höher, wie unser Nest war. Und doch sehe ich alles. Meine Augen sind total gut.

Dann kommt eine Felsenkante. Mama fliegt voraus, sie winkt mir, ich folge ihr. Meine Geschwister sind vergessen. Ich teile mit ihr dies alles. An dieser Kante ist Aufwind, und jetzt lerne ich noch etwas. Ich werde hochgehoben, ohne die Flügel bewegen zu müssen. Nur das Gleichgewicht bewahre ich. Es ist der Aufwind, der mich hochhebt. Sobald ich weit genug oben bin, drehe ich mich in den Gegenwind. Ich will wissen, wie es sich anfühlt, schreie vor Glück, als ich seitlich weggedreht werde und ein rasantes Tempo Richtung Boden aufnehme. Erst kurz vor dem Aufprall bremse ich wieder mit ein paar Flügelschlägen ab und lande dann unter unserem Zuhause. Unter dem Baum, auf dem ich aufgewachsen bin. Nochmal versuche ich etwas Neues. Es ist wie ein Rausch. Mein Herz schlägt so schnell, wie nie zuvor. Jetzt flattere ich vorsichtig nach oben. Da sind Äste am Baum, denen ich ausweichen muss. Aber ich schaffe es, ich bin wieder im Nest meiner Eltern. Mama kommt nach. Der Herr Papa ist weg. Mama lacht und sagt: „Der sucht sich eine neue Frau. Das machen alle Sperber so. Das ist auch nicht schlecht. So hast du einen Partner, während die Eier gebrütet werden müssen, und er geht wieder, wenn alles vorbei ist. Auch das wirst du erleben. In ein paar Wochen wirst du alles alleine machen können. Du bist die erste, die es geschafft hat, wieder ins Nest zurückzufliegen. Alle anderen sitzen irgendwo am Boden. Nur du warst schlau genug, hier her zurück zu kommen. Ich werde deinen Geschwistern noch ein paar Tage helfen. Ihnen Futter bringen und das Jagen zeigen. Aber ich glaube, das brauche ich bei dir nicht. Meine wunderschöne, schlaue, kleine Tochter. Ich bin so stolz auf dich.“