© by Renate Lind

Du sollst nicht wissen!

Da saß ich nun, hineingepfercht und zusammengekauert in den schmalen Spalt zwischen Kleiderschrank und Wand.

Er hatte kräftig zugeschlagen, sein Ledergürtel hatte dunkelrote Striemen auf meinem Rücken, auf Armen und Beinen hinterlassen und das tat höllisch weh.

„Dir werde ich deine Neugierde schon austreiben“, hatte er geschrien. Die Adern auf seiner Stirn schwollen gefährlich dick an, sein Gesicht rot und aufgedunsen von dem billigen Wermut den er ständig trank, angeblich wegen seiner Magenbeschwerden, die Augen schienen aus ihren Höhlen zu kollern.

„Hundertmal schon hab ich dir gesagt, dass dich diese beiden Bücher nichts angehen!“ Jedes Wort unterstrich er mit einem sausenden Schlag des Lederriemens.

Und dabei wollte ich es doch nur wissen.

Ich musste es endlich wissen, denn erklärt haben sie mir rein gar nichts.

Dafür bist du noch zu jung, hieß es, oder das erfährst du noch früh genug, und außerdem hat dich das überhaupt nicht zu interessieren!

Nun bin ich aber schon zwölf Jahre alt. In der vorigen Woche war ich zum ersten Mal mit Karlchen alleine spazieren in unserer Schlucht. Es war einer dieser warmen, hellen Sommerabende wie es sie nur im Norden Europas gibt. Wir fanden einen schönen Platz, setzten uns nieder und redeten über alles Mögliche. Kurz bevor wir heimgingen beugte er sich schnell zu mir herüber und gab mir einen ersten zarten Kuß. Er war darüber sicher ebenso erschrocken wie ich, und am Weg zurück ins Lager redeten wir nichts mehr.

Karlchen hatte mich geküsst, und ich wusste nicht genau bin ich nun verlobt oder bin ich schwanger. Als die ersten Baracken sichtbar wurden, lösten wir unsere Hände voneinander.

Karlchen war schon vierzehn, und der erste Flaum spross in seinem Gesicht. Er hatte gerade eine Lehre als Schiffsbauer begonnen, wir wohnten in derselben Baracke, und er war der große Bruder meiner besten Freundin.

Auf Grund dieses Ereignisses fand ich mich eigentlich schon fast erwachsen und natürlich alt genug um endlich alles zu wissen!

Die „Selbsthilfe“ lag meistens verschlossen in einem Nachtkästchen, aber heute steckte der Schlüssel, niemand war zu Hause, und ich konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen. Ganz ehrfurchtsvoll nahm ich die beiden dicken großen Bücher an mich, auf denen in  großen goldenen Buchstaben „DER ARZT IM HAUSE“ prangte, und quetschte mich damit in besagten Spalt.

Mein Gott, was gab es da nicht alles für hochinteressante Sachen zusehen. Gleich am Anfang ein nackter Mensch zum Auseinanderfalten. Ganz vorsichtig klappte ich die Lungenflügel hoch, legte meinen Finger auf das Herz, um zu fühlen wie es schlägt. Aber es war wohl nur mein eigenes Herz, was da so laut klopfte. Am spannendsten waren die Bilder von den Babys, wie sie im Bauch ihrer Mutter heranwuchsen. So schöne bunte Bilder, man konnte die verschiedenen Stadien sehen, wie sie sich entwickelten, wie sie ihre Lage veränderten, sie sahen immer aus wie meine alte Porzellanpuppe. Und dann natürlich der Geburtsvorgang. Alles sah niedlich, sauber und ganz einfach aus. Jetzt wusste ich es also. Es wächst neun Monate im Bauch der Mutter, und wenn es dann groß genug ist schlüpft es heraus.

Ist doch eine ganz nette Sache, dachte ich, wieso machen denn nur alle immer so ein Theater wenn man fragt?

Doch halt, irgendetwas musste ich übersehen haben, denn ich hatte immer noch keine Ahnung wie die Babys da hineinkamen. Aber das wird sich doch feststellen lassen, dachte ich und blätterte weiter. Bei den schaurig schönen Bildern von den Kindern mit Hasenscharten und Missbildungen hab ich mich wohl zu lange aufgehalten und deshalb überhört, dass mein Stiefvater von der Arbeit nach Hause kam.

„Wieso ist denn hier nicht aufgeräumt“, hörte ich ihn poltern, „das Geschirr nicht abgewaschen, und wo ist denn Peti?“

Ach du meine Güte, meinen Bruder hatte ich total vergessen, den hätte ich von der Schule holen sollen, ihm das Essen wärmen, das Geschirr waschen, aufräumen, Betten machen, alles hatte ich vergessen. Aber jetzt war es zu spät, er hatte mich schon entdeckt. Drohend baute er sich vor mir auf, ich konnte den Wermut riechen, sah sein rotes Gesicht, die geschwollenen Adern auf seiner Stirn und wusste von diversen anderen Gelegenheiten, dass jetzt nichts Gutes kam. Langsam löste er seinen Gürtel von der Hose und sagte, er müsse mir nun ein für alle Mal abgewöhnen so neugierig zu sein.

Als meine Mutter nach Hause kam, sie hatte in dem gerade aufblühenden Wirtschaftswunder einen guten Arbeitsplatz gefunden, kauerte ich noch immer mit verheultem Gesicht und verquollenen Augen in dem schmalen Spalt zwischen Kleiderschrank und Wand. Sie holte mich da heraus, fragte mich was denn schon wieder los gewesen sei, ich erzählte es, —— er erzählte es —–, und wieder einmal gab es einen fürchterlichen Krach zwischen den beiden, und wieder einmal fühlte ich mich fürchterlich schuldig.

Ein paar Wochen nach dieser Sache spielten wir Lagerkinder in unserem Paradies, der Schlucht. Wir suchten nach Schätzen, Cowboys waren wir und natürlich Seeräuber. Und als Seeräuber entdeckten wir tatsächlich einen Schatz! Er lag in einem Schuhkarton und bestand aus ganz vielen, einzeln in Papier verpackten weißen Luftballons. Sie wurden, als wir sie aufgeblasen hatten, riesengroß. Hocherfreut und großzügig schenkte ich meinem Bruder zwei dieser weißen Riesen. Aber mit der Reaktion meiner Mutter konnte ich ja nun überhaupt nichts anfangen. Mit spitzen Schreien, mit „Igittigitt“ und „Pfui“ stach sie mit einem eisernen Feuerhaken auf die schönen Luftballons ein, brachte sie zum Platzen und steckte sie in den Ofen. Wahrscheinlich hab ich total entgeistert ausgesehen, denn sie erklärte mir daraufhin, dass so etwas nur die Männer nehmen, wenn sie zu einer Frau gehen.

Eine Zeitlang habe ich geglaubt Liebe hätte irgendetwas mit Luftballons zu tun. Als Karlchen mir kurz darauf auf einem Kirchtag einen roten Luftballon schenkte war ich ganz selig. Auf dem Heimweg ließ ich aber die Luft heraus und versteckte das schlaffe rote Häutchen vor meiner Mutter sehr sorgsam.

Diese Geschichten spielten sich alle im Sommer 1950 in einem Barackenlager in Sinstorf am Südrand von Hamburg ab.

Im Sommer 1995 spielte sich an einem großen See, mitten in Österreich, eine andere Geschichte ab. Ich war mit meinen Enkelkindern Philipp und Oliver, neunjährigen Zwillingen baden. Wir plauderten über lebenswichtige Dinge wie Batman, Kobolde und Seeungeheuer. Türkisches Kebab haben wir uns schmecken lassen, einige Portionen Eis wurden verputzt und natürlich viel Cola getrunken. So verlangte dann auch die Natur ihr Recht und Oliver suchte die Toilettenanlagen auf. Nach einer angemessenen Zeit stand er wieder da und hielt einen kleinen blauen Zettel in der Hand. Die Sonne glänzte auf seinem kastanienbraunen Haar, und aus seinen schwarzen Augen blitzte mir eine ganze Kompanie sommersprossiger Schelme entgegen.

„Oma?“

„Ja Oliver“

„Oma was ist ein Prä-ser-va-tiv??“

Welche Großmutter ist auf so eine Frage vorbereitet? Ich war es jedenfalls nicht, so setzte ich umständlich und stotternd zu einer Erklärung an. „Also das ist so, wenn ein Mann mit — oder sagen wir einmal, eine Frau die—.“

„Na na“,  hörte ich da eine innere Stimme sagen, „deine Erklärungsversuche hören sich aber nicht sehr Erfolg versprechend an.“ Aber Olivers Bruder Philipp hatte die Situation wieder einmal fest im Griff. Er rückte sich die Brille zurecht und schüttelte mit einem Ruck seine blonde Mähne aus dem Gesicht.

„Mein Gott“ sagte er „ du weißt aber auch gar nichts. Ein Präservativ ist ein Kondom, das zieht man sich beim Bumsen über den Schwanz damit man nicht krank wird und die Frau nicht schwanger!“

„Siehst du liebe Großmutter“ hörte ich die innere Stimme wieder,

„so einfach kann alles sein!“ Erleichtert und lachend sank ich zurück auf meine Liege, dieses Thema war erledigt, und wir konnten uns wieder den wirklich wichtigen Dingen des Lebens zuwenden, nämlich Batman, Kobolden und Seeungeheuern.

Ich konnte es allerdings nicht verhindern, dass aus der Tiefe vergangener Jahre ein zwölfjähriges Mädchen ein wenig neiderfüllt zu uns herüberblickte.