© by Christine Korntner
SCHWEIZERKINDER
Die Fahrt ins Schlaraffenland
Gleich nach Kriegsende, beginnend mit November 1945, wurden auf Initiative des Schweizer Roten Kreuzes mit Kindertransporten sehr viele unterernährte österreichische Kinder per Bahn zum Aufpäppeln in die Schweiz verschickt. Ich war auch so ein Kind und wurde Ende 1947 im Alter von sechs Jahren ein halbes Jahr lang auf Erholung geschickt.
Der Abschied von zu Hause stand bevor, und meine Tante sagte zu mir: „Jetzt kannst du ins Schlaraffenland fahren.“ Ich kannte das Schlaraffenland schon aus einem meiner Bilderbücher. Darin sah man, dass dieses Schlaraffenland von einer Mauer aus Reisauflauf umgeben war, mit Himbeersirup übergossen, und es gab keinen Eingang. Zwei Kinder, die dort ankamen, mussten auf einer Wiese Löffel, die dort an langen Stängeln wuchsen, abpflücken und sich durch die Mauer durchessen, um hinein zu gelangen. Ich hatte auch ein Zwergenbuch, in dem die Zwerge Pix und Pux vorkamen, die in einem großen Schwammerl wohnten. Nun erfuhr ich, dass auch ich ins Schlaraffenland reisen sollte.
Für alle diese Kinder war es das erste Mal, dass sie die österreichische Grenze überquerten. Meine Mutter brachte mich zur Sammelstelle und küsste mich zum Abschied. Alles an mir, sogar die Zopfmaschen, war frisch gewaschen und gebügelt, damit ich nur ja nett und adrett bei den „Schweizer Eltern“ ankäme. Ich bekam einen Zettel an einer Schnur um den Hals gehängt, wurde mit vielen anderen Kindern in den Zug gehoben, und los ging’s. Einige Kinder in unserem Abteil weinten während der ganzen Fahrt, manche nur kurz. Ich weinte nicht, ich hatte gar keine Zeit dazu, ich musste beim Fenster hinausschauen, denn ich war ein sehr neugieriges Kind und wollte die Ankunft im Schlaraffenland auf keinen Fall versäumen.
Irgendwann blieb der Zug stehen, und auf dem Bahnsteig rief jemand dauernd Buchs – Buchs – Buchs, das fand ich sehr komisch. Wir konnten ja alle miteinander noch nicht lesen und schreiben, weil wir ja erst kurz vorher in die Schule gekommen waren. Wir wurden aus dem Zug geholt und marschierten in einer langen Reihe, mit Köfferchen oder Rucksack, in ein lang gezogenes Gebäude. Dort wurde eines nach dem anderen von wartenden Frauen ganz schnell splitternackt ausgezogen, Rucksack, Täschchen und sämtliche Kleider, Schuhe, auch meine Zopfmaschen, verschwanden in großen grauen Blechkästen, aus denen es beim Öffnen herausdampfte. Dann öffnete sich eine Blechtüre, und die lange Reihe nackter Zwerge marschierte in einen von warmem Wasserdampf erfüllten Gang, in dem links und rechts schon mit Waschlappen und Seife bewaffnete Frauen in fleischfarbenen Badeanzügen lauerten und jetzt über uns herfielen. Kaum hatte ich begriffen, was mit mir geschah, wurde ich weiterbugsiert zur nächsten, die mich mit einer Brause total unter Wasser setzte. Ich kannte so etwas nicht, hatte ich den Krieg doch bei Bauern verbracht, weil unsere Wiener Wohnung ausgebombt war, und in der Nachkriegswohnung hatten wir kein Fließwasser. Am Ende der Waschstraße wurde ich abfrottiert und zu meinem größten Schrecken wurde meine Frisur von einer Riesenfrau mit einem noch nie gesehenen Haarföhn zerzaust. Dann bekam ich mein von heißer Luft durchwärmtes Kleiderbündel und musste mich wieder anziehen. Jeder, der die Geschicklichkeit 5-6 Jähriger ohne Hilfe kennt, kann sich vorstellen, wie der Großteil von uns jetzt aussah. Mein Strickwestchen, das mir vorhin noch gepasst hatte, hatte auf einmal viel zu kurze Ärmel. Alles war verschrumpelt, die Zopfmaschen waren nur mehr Schnüre.
Dann kann ich mich noch an eine sonnige Terrasse erinnern mit langen Tischen. Dort bekamen wir nach Wäsche und Entlausung (das war es ja wohl) jeder einen großen Teller mit Grießkoch. Darauf waren Zucker, Cacaopulver und Butterstückchen und über das Ganze ein Löffel Honig. Wir alle hatten so etwas Üppiges noch nie gegessen. Ich entsinne mich noch an eine lange Schlange von zappelnden Kindern, die vor dem einzigen Klo angestellt waren, weil viele von uns Bauchweh bekamen. Bei mir ging es sich grad noch aus, aber ich glaube, ich war die Ausnahme. Ich kann mir denken, in welchem Zustand manche Kinder bei ihren Pflegeeltern eintrafen.
Der Kampf mit Waschlappen und Seife
Ich wurde mit Erika, einem Straßenbahnerkind aus Wien-Speising, von Onkel und Tante in Turgi, so hieß die Kleinstadt im Aargau, empfangen.
Wir wohnten in einer großen Villa in einem riesigen Park mit Hausmädchen und Gärtnerfamilie. Onkel wurde jeden Tag vom Chauffeur mit dem Auto abgeholt und fuhr in die nahe Textilfabrik, die ihm gehörte. Onkel roch so gut nach Zigarren, deren Duft sich mit dem Geruch nach Kernseife im Flur mischte und für mich eine Schweizer Duftmischung ergab. Mit der gestrengen Tante wieder alleine, beschloss ich, der Sache auf den Grund zu gehen, wohin denn der Onkel verschwand. Als der Milchmann kam, entwischte ich mit meinem Dreiradler durch den Dienstboteneingang und radelte mit meinem Gefährt den Berg hinunter und um die Kurve, dann weiter und immer weiter, bis ich zu einem großen offenen Hoftor kam, zappelte über den Hof, kletterte Stufen hinauf, öffnete eine Tür und noch eine, und da saß der Onkel hinter einem riesigen Schreibtisch mit qualmender Zigarre und starrte mich fassungslos an. Es gab entsetzlichen Krach, lange Predigten von der Tante, und zwei Tage lang durfte ich nicht in den Garten.
Neben der Villa, durch ein Tor vom Garten zu erreichen, lag eine 2-stöckige Scheune. Tante hatte uns streng verboten, das Tor zu öffnen, was die Sache für mich sehr interessant machte. Erika und ich hatten dunkelblaue Trainingsanzüge bekommen und schaukelten im Garten – eine Schaukel hatten wir auch. Da kam der kleine Gärtnerjunge und sagte: „Die Tür ist offen.“ Zu dritt erkundeten wir die Scheune, in der, teilweise bis zur Decke, große Baumwollballen gelagert waren, weiße, weiche Ballen. Wir kletterten auf Leitern hoch hinauf und sprangen dann hinunter, so wie ich es schon während des Krieges mit den Bauernkindern in den Scheunen gemacht hatte. Ich fand das ganz normal und sehr lustig. Als wir von Tante und Hausmädchen, die angelockt von dem vergnügten Geschrei, uns entdeckten, waren unsere blauen Anzüge weiß, wir sahen aus wie Mehlwürmer. Diesmal gab es kein Gartenverbot, ganz im Gegenteil. Unsere Trainingsanzüge wurden auf der Teppichklopfstange nahe am Zaun aufgehängt, und während der nächsten Tage mussten wir die Baumwollflocken mit unseren Fingern abzupfen, unter den spöttischen Blicken der Passanten.
Im ersten Stock der Villa war der Salon, in welchem die Hausfrau, die gestrenge ‚Tante’, einmal in der Woche einen ‚Nähkreis’ für Damen aus der Gemeinde mit Kuchenjause veranstaltete.
Neben dem Salon war das Herrenzimmer, dessen Türe fast immer verschlossen war und das ich nicht unaufgefordert betreten sollte. Ich denke, ich war auch nur ein oder zweimal drinnen, der ‚Onkel’ saß hinter einem großen Schreibtisch, qualmte ungeheure Rauchwolken aus einer dicken Zigarre und fragte mich etwas über meine Eltern und Geschwister.
Gegenüber der Treppe war ein Badezimmer, in welchem auch ich regelmäßig mit alemannischer Gründlichkeit gesäubert wurde, meist mit einem scharfkantigen Stück Kernseife, das vom Dienstmädchen von einem großen Stück mit einem Messer abgeschnitten wurde.
Wenn meine Pflegeeltern beschäftigt waren oder Besuche empfingen, was oft der Fall war, sprach niemand mit mir, ich war mir selbst überlassen. Für diesen Fall hatte ich einen Lieblingsplatz am oberen Ende der Treppe. Dort setzte ich mich hin, schaute auf die verschlossenen Türen und sog die Gerüche ein, die unter den Türspalten herausströmten.
Im Treppenhaus vermischte sich der Duft nach Zigarren mit dem Geruch nach Kernseife, eine einmalige Duftmischung, die an den ‚Nähnachmittagen’ noch ergänzt wurde, wenn das Hausmädchen Kuchen und Kaffee den Damen im Salon servierte. Das waren für mich die Gerüche des Reichtums – angenehm, begleitet von gedämpfter Unterhaltung hinter verschlossenen Türen, die nur selten aufgingen.
Manchmal nahm mich die ‚Tante’ oder das ‚Hausmädchen’ zum Einkaufen mit. In Turgi gab es eine ‚Käserei’, in der es herrlich duftete, und wenn wir dorthin gingen, war ich glücklich. Dort stand auf einem hölzernen Lattenrost, etwas erhöht, der ‚Käser’ und schnitt große Stücke aus riesigen runden Käserädern, die vor ihm auf dem Pult lagen. Er kam mir wie ein Riese vor. Er trug ein ‚Schweizer Hemd’ mit aufgekrempelten Ärmeln und wenn er mich sah, lächelte er mich an und sagte: ‚Ah, das Östrichli’. Dann nahm er zwei Griffe zur Hand, zwischen denen eine Stahlsaite gespannt war, schaute mich vielsagend an und zog mit einem
Schwung seiner riesigen Muskelarme die Stahlsaite waagrecht durch den ganzen Käselaib, so dass der in zwei Teile zertrennt war. Dann schnitt er mit dem Messer für mich ein Stück davon ab.
Ich bewunderte den Käser maßlos, für mich war er der schönste Mann’, er war mein erster Schwarm, mein Prinz, um den es nach Milch und frischem geräucherten Bergkäse duftete.
Tante ging mit uns Kindern auch öfter zur Schneiderin und ließ uns sehr schöne, aber sehr schweißtreibende Kleidchen aus Wollstoff nähen. Einmal fuhren Erika und ich mit der Tante nach Basel, um die jüngste Tochter zu besuchen, die dort eine höhere Schule besuchte und bei einer Schwester der Tante wohnte. Bei dieser Gelegenheit fuhr ich zum ersten Mal im Leben mit einem Aufzug. Nachdem die Tante beim Einsteigen einen Knopf gedrückt hatte, wollte ich mich gut benehmen und drückte auch einen Knopf, einen hübschen roten ganz unten. Prompt blieben wir mit dem Aufzug stecken. Nach der Jause mit köstlicher Schokolade gingen die Damen mit uns Schuhe kaufen, UHU-Schuhe. In dem Geschäft stand ein Gerät, das aussah wie eine Personenwaage. Wenn man die Füße in den hohlen Sockel stellte, sah man durch einen Guckschacht ein grünliches Röntgenbild der Fußknochen, und die Verkäuferin konnte beurteilen, ob die Kinderschuhe passten. Ich war nur mit Mühe dort wieder wegzukriegen.
In der äußersten Ecke des Parks bei der Villa in Turgi war ein Teich angelegt. Ich musste natürlich mit einem langen Stock im morastigen Grund herumstochern und fiel hinein. Das Dienstmädchen musste mich, wie so oft, mit Kernseife und Waschlappen abschrubben, und weil nicht erfreut über die Mehrarbeit, die ich dem Personal einbrockte, fiel die Schrubberei sehr nachdrücklich und heftig aus. Ich bin in meinem ganzen Leben nie mehr so oft und so vehement gewaschen worden wie in der Schweiz.
Dann kam die Nachricht, dass in Wien eine Diphterie-Epidemie ausgebrochen war und meine Mutter schwer krank im Spital lag. Noch vom Spital aus wurde das Ansuchen gestellt, mich ausnahmsweise noch einen Turnus, etwa 3 Monate, länger in der Schweiz zu belassen. Verspätet konnte ich wohlgenährt, schön gekleidet und perfekt Schwyzerdütsch sprechend die Heimreise antreten. Meine Eltern schrieben noch einen Dankesbrief. Es kam nur eine kurze Antwort zurück, dass die Tante schon wieder die nächsten Pflegekinder aufgenommen hätte und keinen weiteren Kontakt mehr wünschte. Onkel und Tante hatten mich doppelt so lange am Halse hängen als vorgesehen und hatten wahrscheinlich genug von mir.
Nach meiner Rückkehr wurden einige Ausdrücke in ‚Schwyzerdütsch’, die ich mitgebracht hatte, in unser Familienvokabular übernommen und noch jahrelang beibehalten, vor allem einige Bezeichnungen für Kleidungsstücke. Ich erinnere mich, dass wir noch Jahre später zu einem Unterleibchen mit angenähten Strumpfbändern ‚Gschtaudle’ sagten, und Filzpatschen hießen bei uns ‚Finken’.
Wunderbare Erinnerungen an eine besondere Zeit!
Eveline Buca