© by Wilhelm Maria Lipp

Ich habe einmal einen Kaplan abgeschleckt

 

Eine meiner Tanten war immer schon in der Kirche stark engagiert. Als sie vor langer Zeit sogar bei der KA angestellt war, hat sie sich auch um junge Priester, Kapläne gekümmert, sie in das Gesellschaftsleben mitgenommen. Das bedeutete, immer wieder kam sie mit einem jungen Priester auf Besuch zu uns. Wir erkannten stets sofort an der Kleidung, wenn ihr Begleiter ein geweihter Gottesmann war. Auch wenn sie in Zivil unterwegs waren, hatten diese Menschen einen steifen weißen Kragen, der sie unverwechselbar als Priester kennzeichnete.

Wieder einmal kam sie mit einem jungen Kaplan aus einer St. Pöltner Pfarre zu uns. Meine Schwestern und ich waren sofort ziemlich aufgeregt. Dieser junge Priester sah anders aus, als alle anderen, die wir kannten. Solche Menschen kannten wir nur als Schilderung aus Märchenbüchern, oder als Bild im Buch Hatschi Bratschis Luftballon. Er sah nicht nur anders aus, er roch auch irgendwie anders, als viele andere Menschen.

Wir Geschwister überlegten, ob er nicht nur wie Schokolade aussieht, sondern auch so schmeckt. So habe ich mich ihm genähert und in einem Moment, wo er nicht darauf gefasst war, mich hinuntergebeugt und seinen Handrücken abgeschleckt.

Wie war ich enttäuscht, dass ich einfach „Haut“ schmeckte, die kein bisschen schokoladig war. Meine Mama schimpfte mich, weil ich mich schlecht benommen hatte, meine Tante entschuldigte sich bei ihm. Er aber nahm es mit Humor, lachte darüber und meinte, dass Kinder eben neugierig sind.

So wurde der Bann des Exotischen gebrochen, und dieser Kaplan kam noch öfter auf Besuch zu uns.