© by Eva Nowotny

Wie lange ist man Kind?

 Sie war eigentlich noch ein Kind, als sie mit einem fünf Jahre älteren Mann verheiratet wurde. Ihre Eltern hatten es so mit seinen Eltern vereinbart. Diese wünschten sich, dass die Frau ihres Sohnes vor allem sauber sein sollte, gut putzen könne und noch von keinem anderen Mann berührt worden sei. Das traf auf Ajete zu. Vierzehneinhalb Jahre war sie und nie in der Schule gewesen, sie hatte zu Hause mithelfen müssen.

Bald nach der Hochzeit wurde sie schwanger, aber sie verlor ihr Kind im achten Monat. Sie schämte sich und wusste nicht, was sie falsch gemacht hatte.

Ein Jahr später hatte sie wieder einen dicken Bauch. Wird es diesmal gut gehen? Sie hörte die Ratschläge ihrer Mutter und die Warnungen ihres Mannes. „Du sollst jetzt nichts Schweres heben! Leg dich beizeiten nieder! Iss ordentlich, dass aus unserem Kind etwas wird!“

Mutter führte sie zu einer alten Frau im Dorf, die bekannt war, weil sie mit Sprüchen und Gebeten Kranke heilen konnte. Ajete musste sich auf ein Bett legen, die Heilerin holte Hölzer und Steine und legte sie auf ihren Bauch, während sie unverständliche Worte murmelte. Sie zündete ein Holz und ein paar Kräuter an und fächelte mit ihren faltigen großen Händen den Rauch über Ajete. Es werde alles gut gehen, meinte die Heilerin.

 Es war schon Abend, und Ajetes Mann rief nach dem Abendessen, so dass sie schnell ein paar Kartoffeln aufs Feuer setzte und Schafkäse in kleine Stücke schnitt. Sie servierte ihrem Mann das Essen, und nachdem er gegessen hatte, setzte sie sich an den Tisch und verzehrte die restlichen Kartoffeln. Käse gab es keinen mehr.

 Die Nacht über dachte sie an ihr Kind, denn sie spürte die heftigen Bewegungen seiner Beinchen, und sie hoffte, dass es bald zur Welt käme, denn sie wusste nicht, wie sie mit dem dicken Bauch liegen sollte.

Am nächsten Morgen ging ihr Mann zeitig zur Arbeit. Sie kehrte das Haus aus, richtete die Betten zurecht und ging zum Brunnen vor dem Haus um mit dem Seil einen Eimer Wasser herauf zu holen. Sie schrubbte den Tisch, polierte den Herd auf Hochglanz und sortierte die Handtücher und Bettlaken, die sie am Vortag im Holzschaff vor dem Haus gewaschen hatte.

Doch noch in dieser Nacht weckte sie ihren Mann, denn die Wehen hatten eingesetzt. Er zog sich an um eine Hebamme zu holen. Doch als er mit dieser Frau ins Haus kam, lag neben seiner Frau schon ein Kind. Die Hebamme nabelte das Kind ab und gab Ajete noch einige Ratschläge, dann ging sie. Enttäuscht stellte der Mann fest, dass das Neugeborene ein Mädchen war.

Aber er küsste es auf die Stirn und war froh, dass die Geburt so schnell vorüber war.

Das kleine Mädchen wuchs heran, weinte viel und lächelte oft, wenn Mama es anlächelte. Leider bekam es nach einigen Monaten Durchfall, wollte nicht mehr trinken, und Ajete hatte große Sorge. Sie wusste nicht recht was sie machen sollte. Die Heilerin wurde gerufen, verbrannte ein paar Kräuter und fächelte den Rauch über das Baby, doch es half nicht. Es war Winter und sehr kalt, und Ajete heizte ständig ein, legte Holz in den Ofen, damit es in der Stube warm sei.

Als sie nach dem Baby schaute, fiel ihr sein fahles Gesicht auf, und erschrocken stellte sie fest, dass es nicht mehr atmete. Sie nahm es hoch, klopfte ihm vorsichtig auf den Rücken, schüttelte es vor Verzweiflung, aber es rührte sich nicht mehr. Da setzte sie sich zu ihm aufs Bett und weinte laut vor Trauer. Angst ergriff sie, was ihr Mann und die Nachbarn wohl sagen werden.

Als ihr Mann nach Hause kam, seine am Bett zusammengekauerte Frau schluchzen hörte, fühlte er gleich, was passiert war.

„Was hast du nur mit unserem Kind gemacht? Kannst du nicht besser aufpassen! Hast du zu wenig geheizt? Hat es sich erkältet?“, schrie er sie an. Ajete musste sich viele Vorwürfe anhören, und vor Wut schlug er sie.

Am liebsten hätte sie sich in ein Erdloch verkrochen. So allein hatte sie sich noch nie gefühlt.

 

Es verging ein Jahr und sie trug wieder ein Kind in ihrem Bauch. Diesmal muss es gut gehen, hoffte sie. Mehrere Male musste sie zur alten Frau im Dorf wandern und wurde wieder mit Rauch und Sprüchen behandelt.

 

Als sie eines Tages hinterm Haus die Gurkenpflanzen in die Erde grub, da spürte sie plötzlich eine starke Wehe. Vor Schmerzen gekrümmt wagte sie nicht von vorne in das Haus zu gehen, denn die Söhne des Nachbarn standen vor dem Haus und würden sie sehen.

Sie wollte nicht, dass sie jemand sieht und blieb hinter dem Haus, dort, wo auch die Brennnesseln wuchsen. Im hohen Gras ließ sie sich nieder, und da schlüpfte auch schon ein Kind aus ihrem Körper. Es schrie. Sie drückte es an ihre Brust und blieb eine Weile liegen, ein heftiges Drücken, und die Nachgeburt lag unter ihr.

Mit zittrigen Beinen stand sie auf, hielt das Kind fest, wickelte die Schürze um es und schlich ins Haus. Mit einer Schere durchtrennte sie die Nabelschnur, ging zum Bett und legte den Knaben auf das weiße Leintuch. So schön war er. Dichte schwarze Haare trug er am Kopf, die Augen hielt er geschlossen, und Ajete überkam ein seltsames Glücksgefühl. Es ist ein Bub. Was wird mein Mann sagen, wenn er nach Hause kommt? Sie wickelte ihn in Tücher und legte ihn dicht neben sich, fühlte seinen Herzschlag und war glücklich. Erschöpft schlief sie ein.

Sie erwachte erst, als ihr Mann bei der Tür hereinstürmte. Ein Sohn, den er sich so sehr gewünscht hatte. Er freute sich, nahm das Kind hoch und bestaunte die kleinen Händchen, die klitzekleinen Füßchen. Er war nun stolzer Vater. Er küsste Ajete auf die Wange und lief aus dem Haus, um es seinen Verwandten mitzuteilen. Währenddessen wusch Ajete den Knaben mit Wasser, das sie am Herd erwärmt hatte und holte die Schachtel mit den Baby-Jäckchen, die sie vorbereitet hatte. Vorsichtig zog sie dem Kind das Hemdchen und das Jäckchen an, wickelte eine Windel um seinen Körper, die sie mit einem Band festband und setzte ihm ein Häubchen auf, denn es war noch ziemlich kühl an diesem Frühlingstag.

Abends kamen alle Nachbarn, um es zu begutachten, und anschließend saßen sie um den Tisch, und zur Feier der glücklichen Geburt wurde Cola getrunken.

Das Kind war kräftig, trank gut und gedieh prächtig. Ajete zog es immer warm an, zu warm: Zwei Häubchen, zwei Hemdchen, ein dünnes und ein wollenes Jäckchen und warme Decken um die Beinchen. Es durfte nicht krank werden! Der Bub lächelte sie bald freundlich an, und das beglückte sie. Er schrie wenig, denn er schlief geborgen zwischen den Eltern, und wenn er hungrig zu sein schien, stillte sie ihn.

Sie trug ihn überall hin mit sich, Kinderwagen hatte sie keinen, und sie war stolz auf ihren kleinen Sohn. Seine großen braunen Augen gefielen ihr besonders gut. Wenn es warm war, saß sie mit ihm vor dem Haus, und er spielte mit Steinchen und Hölzern und kostete alles mit dem Mund. Manchmal gab sie ihm einen Klaps auf die Hand, wenn er nicht tat, was sie sagte. Ihr Mann war jetzt viel zu Hause, denn er arbeitete jetzt nicht mehr in der Fabrik, die war zugesperrt worden. Er kaufte ein paar Ziegen und ein paar Hennen, um die sich Ajete kümmern musste.

Er lag viel herum, war meist schlecht aufgelegt und klagte über Schmerzen. Eine ihnen unbekannte Krankheit steckte in ihm. Oft schlug er seine Frau und war mit ihr unzufrieden. Sie weinte viel.

Dem kleinen Luan tat es weh, die Mutter weinen zu sehen, und er hielt es nicht aus zuzusehen, wie Vater auf sie einschlug. Er lief von zu Hause weg und spielte mit anderen Kindern am Fluss. Sie beschmierten sich mit Matsch, versteckten sich in den Büschen und tauchten im Fluss unter, um alles abzuwaschen. Luan gefiel das besser, als zu Hause zu sein, aber Ajete machte sich viele Sorgen. Im Winter blieb er dick angezogen auf der Straße. Die Kinder nannten ihn Zwiebel, weil er so viel anhatte und lachten ihn aus. Im Sommer musste er die Ziegen hüten. Er liebte sie und staunte bei jeder Geburt eines Zickleins über dieses Wunder. Wenn er mit den Ziegen in den Wald ging, sammelte er Pilze. Einmal lief ihm ein verwundeter Hund zu. Da stahl er von zu Hause heimlich Fleisch und fütterte ihn. Mit dem neuen Freund zu spielen war ihm lieber als mit seinen Cousins und Cousinen, die ihn oft verlachten, weil er alte schäbige Kleidung tragen musste und keine ordentlichen Schuhe hatte. Der Vater hatte kein Einkommen, und die paar Eier, die sie verkauften, brachten nicht genug Geld.

 

Doch eines Tages hörte Luan, wie der Onkel zum Vater kam und meinte, Luan sei kein Kind mehr, er werde erwachsen, er müsse beschnitten werden.

Davor hatte er schreckliche Angst und versteckte sich tagelang im Wald. Doch die ganze Verwandtschaft suchte ihn, und sein Geschrei nützte ihm nichts, er wurde gebadet, von Vater und Onkel niedergehalten, und der Schneider des Dorfes kam mit einer Schere und schnipselte ihm die Vorhaut ab. Es tat schrecklich weh. Mutter verband ihn, und mit Schmerzen zog er eine weite, weiche Hose darüber. Dann führten sie ihn zu einem offenen LKW, auf dessen Ladefläche schon einige andere Buben standen. Unter dem Jubel der Dorfbewohner führte man die Kinder, die jetzt zu Erwachsenen geworden waren, durchs Dorf. Als Luans Vater kurz danach starb, lag plötzlich alle Last des Lebens auf ihm allein, er war, obwohl erst fünfzehn, wirklich kein Kind mehr.