© by Reinhard Schwarz

Und es geschah gestern erst…

…am Balkan oder in Afrika oder in Afghanistan…

 

„Ich bin müde“, sagte die Frau leise. Der Mann, der den struppigen Esel führte, nickte langsam im Takt seiner Schritte. „Ich auch“, brummte er vor sich hin und rief in einem Ton, der zuversichtlich klingen sollte, über die Schulter zurück: „Jetzt kann es nicht mehr weit sein!“

Er sah nicht, dass die schmale Frau, die auf dem Esel hockte, ihr kleines Kind fester an sich drückte. Sie hatte wohl verstanden, und der brüchige Strohhalm Hoffnung auf ein besseres Leben, ein Leben in Würde und Achtung, ein Leben im Besitze der wenigen Notwendigkeiten, schien ihr zu Staub zu zerfallen. Auch der Mann trug ähnliche Gedanken in sich herum, trotzdem setzte er mechanisch Schritt vor Schritt auf den staubigen Boden.

Nichts, nichts war besser geworden, seit sie gezwungen worden waren, ihr Heimatdorf zu verlassen. Immer wieder fragte er sich, ob ihre Entscheidung füreinander richtig war, denn die Gesetze waren streng, und auf eine voreheliche Schwangerschaft stand die Todesstrafe.

Und trotzdem setzen sie ihren Weg fort, der Grenze, der Freiheit zu. Hinüber! Das war der Gedanke, der sie aufrecht hielt. Und der Glaube an die Weisheit eines liebenden Gottes die Kraft dafür.

Im kargen Schatten eines verdorrten Strauches hielt der Mann an. „Rasten wir ein wenig“, schlug er vor, und die Frau nickte dankbar. Sie stieg vom Esel, setzte sich und legte das kleine Stoffbündel, in das ihr Kind gewickelt war, behutsam in ihren Schoß. „Schau, es schläft“, flüsterte sie dem Mann zu, doch der hatte keinen Blick für das ewig neue Wunder vor sich. „Ja, ja“, brummte er nur, „ich glaube, ich habe dort drüben ein wenig Grün gesehen. Wir brauchen bei Gott dringend Wasser.“

Die Frau nickte. „Geh nur“, meinte sie, „hier kann mir ja nichts passieren.“

Der Mann warf einen prüfenden Blick in die Runde, dann nahm er die leeren Plastikflaschen aus der Satteltasche und machte sich auf den Weg.

Die Frau blickte ihm nach. Ja gewiss, er war ein guter Mann, aber immer voller Sorgen um den nächsten Augenblick. Doch was nützten diese Sorgen, wenn es oft genug ohnedies ganz anders kam – manchmal schlechter, immer wieder aber auch besser. Sie vertraute fest darauf, dass Gott sie vor dem Schlimmsten bewahren würde.

Während sie so dasaß und ihr Kindchen wiegte, gewahrte sie in der Ferne eine Staubwolke, die sich rasch näherte. Soldaten, das war ihr sofort klar, und was die mit einer einsamen Frau mitten in der Wüsten machen würden, war ihr auch klar. Dennoch blieb sie ruhig sitzen, bis das Auto herangekommen war.

Es waren fünf wilde Gestalten, die verwundert von ihrem Fahrzeug herabblickten. Einer von ihnen, offenbar der Anführer, verzog seinen Mund zu einem breiten Grinsen: „Sehr schön!“, rief er, und nochmals: „Ja, sehr schön!“

Die Frau schloss einen Moment die Augen. Dann hob sie lächelnd ihr Kind auf und hielt es den Männern entgegen. „Ja, es ist sehr schön, nicht wahr?“  

Die Soldaten starrten mit offenen Mündern auf das winzige Wesen. „Auch eure Kinder sind sicher so schön. Aber das eigene ist immer am schönsten.“

Da fand der Anführer seine Sprache wieder. „Hoho, komm uns nicht mit solchen Faxen!“, rief er. „Wir haben nicht diesen Balg gemeint, sondern dich!“

„Danke“, sagte die Frau leise, „jeder Mensch ist auf seine Art schön. Auch eure Frauen zu Hause und eure Mütter, eure Schwestern und auch ihr selbst – wenn ihr euch zusammennehmt und nicht so schreit. Der Kleine ist das nicht gewohnt.“

„Was?“, brüllte der Anführer, setzte aber gleich darauf leiser fort: „Weib, was bildest du dir eigentlich ein? Wo ist dein Mann? Hat er dich hier in der Wüste sitzen lassen?“

„Er ist Wasser holen gegangen, denn wir haben Durst. Habt ihr Wasser bei euch, wovon ihr uns geben könnt? Das wäre sehr schön von euch!“

„Habt ihr gehört?“, wandte sich der Anführer an seine Kumpane. „Sie will von uns Wasser! Sonst noch etwas? Vielleicht auch etwas zu essen?“ Und er grinste höhnisch.

„Gern“, sagte die Frau, „das wäre wirklich nett. Wie gut, dass es solche Menschen wie euch gibt.“

„Aber, Frau – “, stotterte der Anführer, während die anderen noch immer stumm dasaßen, „wir sind nicht da, um etwas herzugeben. Sonst nehmen wir uns immer, was wir wollen!“

„Ich weiß“, sagte die Frau leise, „Gott wird es euch verzeihen. Er sieht, dass ihr im Innersten gute Mensch seid.“  

Da schüttelte der Anführer ungläubig den Kopf, drehte sich um und warf einige Konserven und Colaflaschen in den Sand.

„Was glotzt ihr so blöd?“, schrie er plötzlich seine Kumpane an und versetzte dem Fahrer einen Tritt. „Fahr endlich, du Idiot! Dorthin!“ Und er wies nach links, obwohl die Fußtapfen  deutlich sichtbar geradeaus führten.

In einer gewaltigen Staubwolke verschwand das Fahrzeug am Horizont. Die Frau erhob sich, nahm ihr Kind an sich und den Esel am Strick und wanderte langsam der Spur des Mannes nach.  Sie fand ihn erschöpft neben einem Felsblock liegen. „Ich habe mich verirrt“, murmelte er, „ich glaube, wir müssen wieder zurück.“

„Nein“, sagte die Frau leise, „wir sind hier richtig. Ich weiß es…“