© by Wine van Velzen

Anna

 Mit zitternden Händen kramte Anna ein Taschentuch aus ihrer Tasche und wischte die Tränen aus ihrem Gesicht. Der dicke Zopf hatte sich gelöst und ihr Haar wehte feuerrot im Wind. »Weg! Ich muss hier weg«, schrie es laut in ihr. Anna konnte die Sticheleien und den Spott ihrer Mitschüler nicht mehr ertragen. Gehässig lästerten sie über ihr rotes Haar, über ihre blasse Haut und den Sommersprossen im Gesicht. »Hexenkind! Hexenkind! Du gehörst auf den Scheiterhaufen«, brüllten ihre Mitschüler wieder einmal über den Pausenhof und lachten boshaft. Anna hielt es nicht mehr aus. Sie drehte sich um und rannte los.

 Außer Atem, erreichte das Mädchen die Innenstadt. Die Tränen waren getrocknet, doch der Schmerz pochte in ihrem Herzen. Seit der ersten Klasse wurde Anna verspottet und gehänselt. Im Sportunterricht, wollte sie niemand in ihrem Team haben. Dünn und kränklich wie sie war, hatte sie kaum Ausdauer und konnte mit den Anderen nicht mithalten. Zu Geburtstage oder Festen wurde sie nicht eingeladen. Ständig spielten die Schüler Anna Streiche, versteckten ihre Sachen oder warfen sie einfach weg. Anna ertrug es nicht mehr. Zu Hause hatte sie nie etwas erzählt. Ihre Mutter arbeitete viel und einen Vater hatte sie nicht. Zu allem Überfluss war das rothaarige Mädchen eine Einser-Schülerin.

 Sie schloss die Tür zur Wohnung auf und ging in ihr Zimmer. Dort nahm sie die Kopfhörer und drehte die Musik laut auf. Anna warf sich auf ihr Bett und schloss die Augen.

 Die schrille Klingel beendete die große Pause und die Schüler gingen zurück in ihre Klassen. Anna hätte Kunstunterricht, wenn sie da gewesen wäre. Herr Weber trat mit einem großen Ordner ein und legte ihn auf dem Pult.

»Ich habe die Bilder bewertet, die ihr letzte Woche gezeichnet habt. Wie ihr wisst, war das Thema „ICH“.«

Gekicher und Getuschel war zu hören. Herr Weber sah sich im Raum um.

»Ist Anna heute nicht da?«, fragte er erstaunt.

»Ich glaube, ihr wurde schlecht, deshalb ist sie nach Hause gegangen«, log Fabian und die anderen nickten dazu.

Der Lehrer überlegte kurz, dann entschied er, Annas Bild der Klasse zu zeigen. Zuerst, hatte er aber noch etwas zu sagen. Er hatte einige Male mitbekommen, wie das Mädchen ausgegrenzt und verspottet wurde. Sein Eingreifen bewirkte aber nur, dass die Schüler erst recht verbal auf Anna losgingen. Herr Weber war schockiert, als er Annas Bild sah, dass er bewerten sollte.

»Ich möchte euch zu Anna Bild etwas sagen«, begann der Lehrer. »Ich weiß sehr wohl, dass ihr Anna verspottet, wann immer sich euch eine Gelegenheit bietet.«

Wieder kicherten einige Schüler. »Ihr beschimpft sie, als Hexenmädchen, wegen ihres roten Haars. Verspottet sie, weil sie im Sportunterricht nicht mithalten kann.« Herr Weber räusperte sich, bevor er weiter sprach. »Anna ist intelligent, schreibt gute Noten und sie ist still, höflich und zurückhaltend. Dinge, die man über einige von euch nicht sagen kann.«

Die Stimme des Lehrers war scharf und lauter geworden. Die Schüler rutschten unbehaglich auf ihren Stühlen herum. Kein Lachen, kein Kichern war mehr zu hören. Herr Weber nahm die Zeichnung von Fabian hoch und zeigte sie der Klasse.

»So sieht Fabian sein ICH.«

Ein lachender, blonder Junge, der eine Trophäe hochhielt, ein Trikot trug und um ihn herum Menschen, die ihn bejubelten.

»Fabian sieht sich als Sieger. Er genießt den Ruhm.« Die Klasse klatschte und johlte. Fabian grinste. »So in der Art waren alle eure Zeichnungen. Ihr Jungs seht euch als Sieger, Eroberer, im Anzug, als Chef. Die Mädchen sehen sich, als strahlende Schönheiten, die Karriere machen wollen, ein schönes Haus und später Kinder wollen.«

Herr Weber nahm das Bild von Lena Marie und hielt es hoch. Es zeigte das Mädchen auf dem Laufsteg. Lena Marie war das schönste und begehrteste Mädchen in der Klasse. Sie wurde gemocht und genoss es, viele Freundinnen zu haben. Wieder klatschte die Klasse.

 »Jetzt möchte ich euch die Zeichnung von Anna zeigen.«

Buhrufe und Pfiffe ertönten. Herr Weber biss sich auf die Lippen, als er seine Schüler ansah. Er nahm ohne weitere Worte die Zeichnung und hielt sie über seinen Kopf. Schlagartig verstummte die Klasse. Einige der Schüler senkten beschämt die Augen, andere sahen weg. »Seht euch das Bild von Anna an«, brüllte der Lehrer. Die Klasse zuckte zusammen. Widerwillig betrachteten sie die Zeichnung.

»Anna hat nicht wie ihr, ein Mädchen gemalt, das eine großartige Zukunft vor sich hat. Sie sah sich weder beliebt noch als jemanden, dem es gut geht.«

Prüfend blickte er seine Schüler an. »Das ist allein, eure Schuld«, sprach er leise. »Mit eurem Spott und euren Gemeinheiten, die ihr sie spüren lässt, malte Anna nicht, wie sie sich sah, sondern wie ihr sie sehen wollt.«

Die Schüler bekamen ein schlechtes Gewissen.

»Was wäre, wenn man euch so behandeln würde? Was würdet ihr dagegen tun?« Keiner gab eine Antwort. »Annas Bild macht mich traurig und ich schäme mich für euch. Was ihr dem Mädchen antut, ist das allerletzte.«

Herr Weber nahm die Zeichnung und hing sie hinter sich an die Tafel. Immer wieder blickten die Schüler auf das Bild. Ein großer Scheiterhaufen, war zu sehen, der lichterloh brannte. Darauf, an einem Pfahl gefesselt, war ein rothaariges Mädchen gebunden, deren Mund weit zum Schrei aufgerissen war und dessen rot leuchtendes Haar wild und zerzaust in ihr aschgraues Gesicht fiel. Um das Feuer standen grinsend Jugendliche. Einige warfen Holz und Reisig auf den Haufen, damit die Flammen noch höher emporloderten, um das gefesselte Mädchen zu erreichten. Es war eine grausame Zeichnung.

»Anna sieht sich bereits als tot. Sie hat ihrer Meinung nach weder eine Wahlmöglichkeit, noch sonst eine Zukunft vor sich«, erklärte der Lehrer, den stummen Schülern. Plötzlich verstanden die Halbwüchsigen, was sie mit ihrem Spott und ihrer Hänselei bewirkt hatten. Als die Klingel den Unterricht beendete, atmete die Klasse auf. Fluchtartig verließen die Jugendlichen den Raum.

  Lena Marie hatte sich nach dem Unterricht, viele Gedanken gemacht. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es Anna ging, wenn man sie auslachte, verspottete und gemein zu ihr war. Beim Abendessen sprach sie mit ihren Eltern, über Annas Zeichnung „ICH“. Ihre Mutter, die ihr Haar mahagonirot färbte, hatte Tränen in den Augen und ihr Vater wurde wütend. Die Eltern versuchten ihrer Tochter zu erklären, was sie von dem Spott und ja, auch Mobbing hielten, dem sie Anna aussetzten. Sie glaubten auch, dass die Mitschüler unbewusst, die guten Noten dem Mädchen neideten. Lange sprachen sie miteinander und Lena Marie verstand so langsam, was sie und ihre Freunde Anna antaten. In dieser Nacht weinte sich Lena Marie in den Schlaf.

  Anna hatte Magenschmerzen, wie so oft, wenn sie morgens aufstand. Langsam zog sie sich an und ging zur Schule. Anders als sonst wurde sie nicht spöttisch begrüßt. Ihre Klassenkameraden wichen ihrem Blick aus. Die schrille Klingel ertönte. Anna ließ sich Zeit, als man an ihr vorbei stürmte und betrat als Letzte das Klassenzimmer. Mit gesenktem Blick lief sie ganz nach hinten, zu ihrem Platz. Erschrocken sah sie auf, als sie bemerkte, dass neben ihrem Stuhl jemand saß. Lena Marie sah Anna schüchtern und unsicher an. Verblüfft setzte sich Anna neben sie und starrte Lena Marie an.

»Was habt ihr heute mit mir vor?«, fragte das rothaarige Mädchen bitter.

Tränen glänzten in ihren Augen, die sie verzweifelt weg blinzelte. Die schöne Lena Marie legte den Arm um Anna.

»Nichts, haben wir vor. Ich will dich einfach nur kennenlernen«, erklärte sie Anna, die sie noch skeptischer, als davor ansah »Ehrlich, Anna. Ich will wirklich Zeit mit dir verbringen. Vielleicht können wir eines Tages Freundinnen werden.« Leise fügte sie hinzu. »Und es tut mir sehr leid, dass ich so gemein zu dir war.«