© by Wine van Velzen

Damals

 Leise prasseln die Regentropfen an mein Fenster. Als das Gewitter aufzieht und die Wolken immer grauer und schwärzer werden, knipse ich die kleine Stehlampe an, die auf dem Schreibtisch steht. Sie leuchtet auf das leere Blatt Papier, das vor mir liegt. Eine Stunde sitze ich bereits davor und es ist noch immer weiß und leer. Ich will von dir mein Kind, erzählen. Dein Leben beschreiben. Etwas für alle, die dich lieben, hinterlassen. Doch meine Gedanken schweifen immer wieder ab. Ich habe so viele Erinnerungen in meinem Herzen. So viele Bilder in mir. Deine

Kindheit, dein Heranwachsen. Du als süßer Teenager, als junge Frau. Ich sehe dich lachen. Wie du wütend bist oder die Arme verschränkst und zu deiner eigenen Meinung stehst. Ich sehe deinen Lebensmut und die Freude am Leben.

 Damals – als du noch lebtest.

 Bei vielen Dingen, an die ich mich erinnere, die wir gemeinsam erlebten, muss ich schmunzeln und auch herzhaft lachen. Der Schmerz, der seit deinem Tod in meinem Herzen wohnt, wird dadurch ein bisschen weniger. Doch dann überrollt er mich wie eine Lawine, holt mich ein und nimmt mir die Luft zum Atmen. Ich möchte laut meine Wut und meine Trauer hinausschreien. Möchte auf dieses leere Blatt Papier schreiben, was ich empfinde. Hadere mit Gott und der Welt, obwohl ich weiß, dass niemand etwas dafür kann. Du bist tot. Du lebst nicht mehr unter uns. Die Krankheit nahm dich mir weg. Riss dich aus unserer Mitte. Es sind nur noch Erinnerungen. Erinnerungen an dich, wie du gewesen bist.

 Damals – als du noch lebtest.

 Ich stehe auf, blicke auf das leere Blatt vor mir und gehe hinaus in die Küche. Ich mache mir eine Tasse Kaffee, gehe damit auf den Balkon und zünde mir eine Zigarette an. Der Himmel ist noch immer grau und die Wolken ziehen nur langsam weiter. Hier und da sehe ich einen kleinen Sonnenstrahl, der sich mühsam durch die Wolkendecke kämpft. »Er ist wie du«, denke ich und ein kleines Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen.

 Damals – als du noch lebtest.

 Die Tränen der Trauer laufen heiß über meine Wangen und ich stürze ins Bodenlose. Ich hätte dir mein geliebtes Kind, all die Jahre, die ich noch auf Erden habe, von Herzen gern gegeben. Um dir mehr Zeit zu geben. Mehr Zeit zum Streiten, Lieben, Versöhnen und Genießen. Zeit, um älter zu werden. Um die Welt zu bereisen.

Um Erfahrungen zu sammeln.

 Mehr Zeit – um zu leben.

 Ich sehe dich als kleines Paket, das ich aus dem Krankenhaus nach Hause brachte. Sehe, wie du dich als großartige Persönlichkeit entwickelt hast. Wie du so früh lerntest, deine Meinung zu bilden, und dafür eingestanden bist. Auch wenn es manchmal unbequem für dich war und du mit heftiger Gegenwehr rechnen musstest, bliebst du dabei und hast dich nicht umstimmen lassen.

 Damals – als du noch lebtest.

 Ich kann dich nicht mehr umarmen. Dich nicht riechen, nicht spüren, dein Lachen nicht hören. Denn du bist fort. Du wurdest aus unserer Mitte gerissen und wir konnten uns nicht mehr von dir verabschieden. Ich habe dich auch heute, ein Jahr und vier Monate später, noch immer nicht verabschiedet. Was ist das überhaupt für ein Wort? Abschied. Ich will nicht Abschied nehmen von dir. Du gehörst doch zu mir, zu uns. Auch wenn ich dich nicht mehr sehen kann, heißt das nicht, dass du nicht bei deiner Familie bist.

 Ich setze mich wieder auf den Stuhl und blicke das leere, weiße Papier an. Jeden Gedanken an dich will ich für dich – für mich aufschreiben, doch der Stift in meiner Hand bewegt sich nicht. Das weiße Papier bleibt leer. Es müsste doch eigentlich vollgeschrieben sein. Es gibt so viel von dir zu erzählen. Und doch ist es leer und blickt mich vorwurfsvoll an. Werde ich es jemals schaffen, über dich zu schreiben? Kann ich das leere Blatt Papier mit meinen Erinnerungen an dich füllen oder werden sie eingeschlossen in meinem Herzen bleiben, dort, wo du bist? Mit einem Seufzer und traurigen Augen sehe ich dein Bild an, das auf dem Schreibtisch neben dem weißen Blatt Papier steht. Sacht fahren meine zittrigen Finger über dein Gesicht. Du lächelst und dein Blick ist wissend. Du weißt, wie schwer er es mir fällt, dieses leere Blatt vor mir zu haben.

 Ich habe es wieder nicht geschafft. All meine Gedanken, meine Erinnerungen und meine Liebe zu dir bleiben eingeschlossen in meinem Herzen.

 Ich öffne die Schublade, hole die schwarze Ledermappe heraus, auf der deinen Namen in goldenen, filigranen Buchstaben eingestanzt ist und öffne sie. Langsam nehme ich das Blatt Papier in meine Hände und lege es zu all den anderen leeren Blättern.

 Ich habe es wieder nicht geschafft. All meine Gedanken, meine Erinnerungen und meine Liebe zu dir, bleiben eingeschlossen in meinem Herzen.