© by Wine Van Velzen

Das Testament

 

Alle sind gekommen. Auf der Beerdigung vor drei Wochen, war nicht einmal die Hälfte meiner Verwandtschaft anwesend. Doch nun, da das Testament meines Großvaters eröffnet wurde, da war ihnen kein Weg zu weit, kein Termin wichtiger. Sie saßen im Speisesaal an dem langen braunen Holztisch und sahen sich verstohlen um. Hans, der Butler, hatte Säfte, Wasser und Wein und andere alkoholische Getränke aufgetischt. Danach stellte er sich zu den anderen Angestellten, die nervös an der Wand standen. Auch sie wurden im Testament meines Großvaters bedacht, deshalb waren sie ebenfalls anwesend.

Frau Dehmer, die Köchin, schnäuzte in ihr blütenweißes Taschentuch, ihre Augen, gerötet vom Weinen. Dreißig Jahre hatte sie ihrem Herrn gedient und ihm seine Lieblingsspeisen gekocht.

Hans war von allen Beschäftigten am längsten in dem schlossähnlichen Anwesen. Mein Opa und er kannten sich bereits seit frühester Kindheit. Hans war der Sohn des damaligen Gärtners. Später gingen die jungen Männer gemeinsam auf Reisen und Hans wurde für meinen Großvater unentbehrlich. Er kümmerte sich um die Koffer, die Reservierungen, erinnerte ihn an Termine, ja, er wurde ihm zum Freund.

Daniel nahm die Flasche Scotch vom Tisch und füllte ein Glas, das vor ihm stand. Die Eiswürfel klirrten darin, als er das bernsteinfarbene Getränk zum Mund führte.

»Säufer!«

Die Stimme erklang leise und zischend und doch hatte sie jeder im Raum gehört. Mein Onkel Robert kniff die Augen zusammen und sah alle Anwesenden verärgert an. Seinen Sohn als Säufer zu bezeichnen, gefiel ihm absolut nicht. Jeder mied seinen Blick. Daniel schien es nicht im Geringsten zu interessieren. Spöttisch hob er die linke Braue, nahm genüsslich einen Schluck von dem bernsteinfarbenen Getränk und stellte das Glas vor sich ab.

 

Notar Dr. Seeberger, saß am Kopfende, dort, wo sonst mein Großvater gesessen hat. Auf seiner lichten Kopfhaut perlte Schweiß. Der schwarze Maßanzug saß perfekt. Seine graublauen Augen sahen mich hinter der randlosen Brille an. Ich hielt seinem Blick stand, bis mich der keifende Klang von Agnes Stimme ablenkte. Genervt biss ich mir auf die Lippen, sah kopfschüttelnd meinen Onkel Johannes an, der nur mit den Schultern zuckte. Ich blickte zurück zu Dr. Seeberger. Er tippte auf den Tasten des mitgebrachten Laptop herum. Hermann, mein Onkel, und seine affektierte Frau Agnes, saßen links neben mir. Jedes Mal, wenn Agnes zu plappern anfing, stellten sich mir die Haare im Nacken auf. Grell, laut, unangenehm und keifend, hörte sie sich an. Ihre schrille Tonlage schmerzte in meinen Ohren. Ich erinnerte mich, dass auch Großvater schmerzlich das Gesicht verzog, wenn sie sich mit ihm unterhalten hatte. Wie Onkel Hermann diese Stimme aushielt, war mir ein Rätsel. Das Ehepaar rechnete mit einem großzügigen Scheck. Das Gleiche galt für viele, die an den Wänden standen und am Tisch saßen. Ich muss gestehen, auch ich erwartete, eine angenehme Summe zu erben. Mit diesem Geld wollte ich einen Neuanfang wagen. Die Scheidung vor sechs Monaten, saß mir noch immer in den Knochen. Wenn ich nur daran dachte, wie dreist und schamlos Timo mich in unserer dreijährigen Ehe betrogen hatte, kam erneut die Enttäuschung in mir hoch.

 

Dr. Seeberger räusperte sich erneut und setzte sich aufrecht hin. Gespannt starrten wir ihn an. Claudia und Simon, die neunzehnjährigen Zwillinge, flüsterten miteinander, bis ihre Mutter Klara ihnen einen mahnenden Blick zuwarf. Tante Klara war eine resolute, etwas pummelige Dame, die stets auf Anstand und Sitte achtete. Ihre Kleidung war schlicht und teuer. Der neue Kurzhaarschnitt und die hellen Strähnchen standen ihr sehr gut. Sie sah um einige Jahre jünger aus, als sie war. Tante Klara nahm für mich eine Mutterstellung ein und ich liebte sie sehr. Mein Großvater nahm mich, nach dem Unfalltod meiner Eltern, bei sich auf. Obwohl er die Vormundschaft für mich übernahm, habe ich in nur selten zu Gesicht bekommen. Er wies mir vor fast zwanzig Jahren ein Zimmer in dem riesigen Haus zu, das weit von seinen privaten Gemächern entfernt lag. Nie habe ich ihn um seinen verunglückten Sohn und seiner Schwiegertochter trauern sehen. Ich hatte immer den Eindruck, sein Hobby das Malen sei ihm wichtiger als seine Familie. Stundenlang hielt er sich in seinem Atelier auf, vergaß oft die Zeit. Farbenprächtige Landschaften zauberte er mit dem Pinsel auf die Leinwände, die ich mir heimlich ansah. In seinem geliebten Atelier starb er dann auch und wurde von Hans aufgefunden. Herzinfarkt, stellte der herbeigerufene Arzt fest und füllte den Totenschein aus.

 

Tante Klara lebte damals wie heute, mit ihrem Mann Johannes und den Zwillingen im Westflügel. Die Schwester meines Vaters tröstete mich, wenn ich abends in dem fremden Zimmer lag und meine Eltern und mein Zuhause vermisste. Sanft und liebevoll sprach sie mit mir, erzählte Märchen und Gute-Nacht Geschichten. Ich liebte ihre fürsorgliche Stimme, ihr glockenklares Lachen, ihre Umarmungen. Klara machte mit mir Ausflüge, sie kaufte meine Garderobe und tröstete mich, als ich den ersten Liebeskummer hatte. Nach meiner Scheidung war es ihre Tochter Claudia, die mich mit auf Partys schleppte, damit ich auf andere Gedanken kam. Sie ist für mich wie eine kleine Schwester.

Wir grinsten uns über den Tisch hinweg an. Johannes schmunzelte, wurde aber ernst, als er den empörten Blick seiner Frau bemerkte.

Der Notar räusperte sich noch einmal, schob die Brille zurecht, dann drehte er den Laptop so herum, dass wir den Bildschirm sahen.

»Der verstorbene Andreas Maria von Eichenburg hat sein Testament vor Zeugen niedergeschrieben, so wie auch ein Video aufgezeichnet. Er bat mich, Ihnen eine Kopie des Testaments auszuhändigen, nachdem die Aufnahme abgespielt wurde.«

Überraschtes nach Luft schnappen, war zu hören. Wir sollten meinen Großvater noch einmal sehen und hören? Das Gemurmel verstummte, als Dr. Seeberger auf die Taste tippte. Auf dem Bildschirm erschien das Konterfei meines Großvaters. Bevor er sich an seine Familie wendete, sprach er mit wohlwollender Stimme zu seinen Angestellten. Er bedankte sich für ihre Dienste, die er entsprechend belohnen würde. Wie gebannt hörte ich ihm zu. So freundlich, habe ich meinen Großvater selten sprechen gehört.

 

Wie erwartet, erbte Hans der Butler ein stattliches Vermögen und das Sommerhaus auf Teneriffa. Die Köchin erhielt ebenfalls eine anständige Summe und das mietfreie Wohnrecht auf Lebzeiten in dem Häuschen, in dem sie seit dreißig Jahren auf dem Anwesen lebte. Die anderen Angestellten sollten einmalig ein dreifaches Gehalt ausbezahlt bekommen. Die Bediensteten verließen zufrieden den Speisesaal. Allen Angestellten war die Trauer anzusehen. .  Herr hatte sie nie schlecht behandelt. Streng ist er gewesen, das schon, aber niemals ungerecht.

 

Wir, seine Nachkommen, seine Erben, warteten gespannt darauf, was mein Großvater uns hinterlassen würde. Opa schaute aus dem Bildschirm heraus und ich hatte den Eindruck, er könnte uns wirklich sehen. Jedem von uns schien er in die Augen zu sehen.

»Willkommen Familie, ich gehe mal davon aus, dass ihr alle vollzählig erschienen seid. Schließlich geht es um euer Erbe, das sich keiner entgehen lassen will.«

Ich spürte die Spannung, die sich am Tisch aufbaute. Ich hatte das Gefühl, dass sich die Laune meines Großvaters schlagartig veränderte. Und ich hatte mit meiner Ahnung recht, als er weiter sprach.

»Für mich seid ihr ein raffgieriges Pack, das froh darüber ist, dass ich endlich ins Gras gebissen habe.«

Seine Stimme triefte vor Geringschätzung. Genau mit dieser Nichtachtung und Abscheu führte er seinen Monolog weiter.

»Wenn mein Freund Dr. Seeberger mich nicht so weichgeklopft hätte, würdet ihr nur den Pflichtteil bekommen.«

Sein verächtliches Lachen dröhnte in unseren Ohren. Es hatte den Anschein, als ob er das bleichgewordene Gesicht von Agnes und den Schweißausbruch von Onkel Hermann sehen würde. Seine Augen starrten die beiden an, als er weiter sprach.

»Keine Angst, es wird keiner von euch zu kurz kommen«, beruhigte er die Frau seines Sohnes, deren Gesicht kalkweiß unter der dick aufgetragene Schminke wurde.

Für meinen Großvater waren wir alle zusammen ein Haufen von Erbschleichern, die nur das Geld, die Aktien und die Häuser wollten. Er mochte uns nicht! Hatte uns nie gemocht!

Großvater verabscheute seinen Sohn Hermann, weil er ein Weichei war und unter Agnes Pantoffel stand. Meinen Onkel Robert verübelte er, dass er schon sehr früh die Familie verließ und sein Glück in Italien und bei Maria fand. Ihr Sohn Daniel wurde von seinen Eltern geliebt und verwöhnt, bis seine Mutter an einem Krebsleiden starb. Robert litt noch heute, zehn Jahre später, unter dem Tod seiner Frau. Sein Sohn ging damals nach Amerika, um dort zu studieren und um der Trauer seines Vaters zu entkommen. Tante Klara, Onkel Johannes und die Zwillinge, bewohnten seit ich denken konnte den Westflügel. Mein Onkel war Vermögens- und Anlageberater. Er kümmerte sich um die Finanzen meines Großvaters, vermehrte dessen Reichtum von Jahr zu Jahr. Er legte das Geld unter anderem in Immobilien und Aktien an. Klara war die gute Seele im Haus, sie führte es im strengen Regime. Und dann war da noch ich, Sabrina von Eichenburg. Nach dem Studium habe ich Timo kennengelernt. Ich zog in einer Nacht- und Nebelaktion aus und heiratete ihn. Großvater weigerte sich, auf meine Hochzeit zu kommen. Seine tiefe, immer leicht spöttische Stimme, riss mich aus meinen Gedanken.

»Hermann, du fetter Kerl, du solltest dringen deine Ernährung umstellen, wenn du noch ein Weilchen Leben willst. Obwohl, mit dieser aufgetakelten Pute an deiner Seite und ihrer schrill quiekenden Stimme, wirst du schneller den Löffel abgeben, als es dir lieb sein wird.“

Ich konnte mir nur schwer das Lachen verkneifen. Mein Großvater hatte noch nie ein Blatt vor den Mund genommen. Er schoss seine scharfen Pfeile gerne ab, um jemanden zu kränken oder zu beleidigen. Claudia hielt sich die Hand vor dem Mund. Tränen standen in ihren Augen, weil sie verzweifelt versuchte, nicht loszulachen. Agnes lief purpurrot an und schnappte entrüstet nach Luft. »Du, mein Sohn, bist wahrlich genug gestraft, deshalb bekommst du meine Oldtimer, das Sommerhaus in Spanien, das in der Toskana und ein großes Miet- und Geschäftshaus in der Innenstadt. Selbstverständlich auch etwas Geld.«

Hermann blinzelte, als Großvater die Summe nannte. Er war mehr, als einverstanden. In seiner Firma stand ihm das Wasser bis zum Hals. Mit einer kräftigen Finanzspritze könnte er weiter machen und sich entspannt zurücklehnen. Mit dem Erbe hätte er noch genug Reserven, um sich und Agnes ein angenehmes Leben zu bieten. Doch beinahe mehr freute sich Hermann über die kostbaren Prachtstücke, die er bekommen sollte. Er war schon als Kind vernarrt in die Automobile, die sein Vater sammelte. Dass sie nun sein Eigen sein würden, erfüllte ihn mit Freude und Stolz. Agnes überdrehte Freudenschreie, ließen die Gläser klirren.

 

Für jedes Familienmitglied hatte mein Großvater eine spitze Bemerkung übrig, bevor er aufzählte, was er ihnen vererbte. Alle bekamen Häuser, Grundstücke, Aktien und Geld. Zu Onkel Robert war Großvater auch nicht gerade freundlich.

»Mein lieber Robert«, begann er in einem süffisanten Ton. »Du bist der größte Jammerlappen, der mir jemals begegnet ist.«

Mein Onkel starrte stoisch den Bildschirm an, sein Gesicht wirkte wie versteinert.

»Ich weiß, wie sehr du und dein selbstgefälliger Sohn dem Weingeist zugetan seid. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wenn du und Maria, Gott hab sie Selig, zu Besuch gekommen seid. Aus meinem Weinkeller habt ihr mir die teuren Rotschild- und Balgheri-Flaschen weggesoffen. Dachtet ihr, ich wusste es nicht?«

Ich war entsetzt. Was Großvater jedem an den Kopf warf, war einfach unverschämt und niederträchtig. Daniels Gesicht färbte sich rot und seine Hände formten sich zu Fäusten, doch Großvater war noch nicht fertig, mit seiner Litanei.

»Mit deiner ständig betrunkenen Gefühlsduselei, Roberto, hast du deinen Sohn vertrieben. Bis nach Amerika ist er geflohen, weil er dein jämmerliches Wehgeschrei nicht mehr ertrug.«

Diese Bloßstellung vor der versammelten Familie hatte keiner von uns erwartet. Wir alle waren über diese harten Worte schockiert und jeder, der noch nicht erwähnt wurde, sackte tief in den Stuhl, auf dem er saß. Onkel Robert hob sein Glas, begann zu lächeln und prostete dem Konterfei auf dem Bildschirm zu.

»Du bist schon immer sehr theatralisch gewesen, Vater. Bevor du dir anmaßt, über uns zu urteilen, hättest du dich besser mit deinen eigenen Fehlern auseinandersetzen sollen. Aber so bist du immer schon gewesen. Die Unvollkommenheiten anderer waren schon immer ein gefundenes Fressen für dich.«

Robert trank sein Glas leer und knallte es auf den Tisch. Alle sahen betreten weg.

Die Zwillinge hatte er ebenfalls verbal angegriffen, dennoch würden sie eine hohe Summe erhalten. An Claudia prallten die Gemeinheiten einfach ab. Sie war ganz aus dem Häuschen vor Freude, als sie den Betrag hörte, den sie bekommen würde, und ich freute mich mit ihr. Mit dem Geld konnte meine Cousine endlich unabhängig von ihren Eltern sein, die sie bisher immer sehr knapp hielten. Daniel, bekam den gleichen Betrag vererbt und den roten, italienischen Sportwagen dazu, der in der Garage stand. Auch hier konnte Großvater seine spitze Zunge nicht im Zaum halten.

»Daniel, denke daran, dass der Wagen schneller fährt, als dein Schutzengel dir folgen kann. Ich rate dir, die Finger vom Alkohol zu lassen, wenn du ihn fährst. Du schlägst voll nach deinem Vater und auch du wirst zum Trunkenbold werden, wenn du nicht endlich vernünftig wirst.«

So gelassen, wie er sich gab, nahm Daniel die Stichelei nicht hin. Ich bemerkte, wie er auf der Unterlippe kaute und den Kopf gesenkt hielt. Simon war der Einzige, dem es nicht zu gefallen schien, dass Daniel den Sportwagen, den er selbst gern gehabt hätte, bekam. Daniel hatte kaum Kontakt zum Großvater, dennoch wurde er mit der Schenkung des Wagens hervorgehoben. Bevor Simon seinen Unmut laut aussprechen konnte, zog ihn Klara an sich heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Beschämt senkte er den Kopf, damit man nicht sah, wie er errötete.

»Nun zu dir Sabrina.«

Wurde die Stimme meines Großvaters weicher oder bildete ich mir das ein? Stocksteif saß ich am Tisch und starrte den Bildschirm an.

»Ich habe mich kaum um dich gekümmert, nachdem mein Sohn bei diesem schrecklichen Unfall starb.«

Eine steile Falte erschien zwischen meinen Brauen.

»Du hast nicht nur deinen Sohn verloren. Auch deine Schwiegertochter, meine Mutter, starb bei diesem Unglück ebenfalls«, murmelte ich und wischte die Tränen aus meinen Augen.

»Meine Tochter Klara hat diese Pflichten für mich übernommen und dafür bin ich ihr dankbar«, sprach er weiter.

Ich hörte aufrichtiges Bedauern in seiner Stimme. Daniel reichte mir ein Taschentuch und ich nahm es dankbar an.

»Ich möchte dieses Versäumnis wieder gut machen, Sabrina. Betroffen und mit roten Augen suchte mein Blick Tante Klara. Claudia stand auf, lief um den Tisch herum und nahm mich tröstend in die Arme. Doch auch ihr stockte, wie allen anderen der Atem als mein Großvater laut und vernehmlich, in seinem befehlsgewohnten Ton erklärte:

»Du wirst meine Universalerbin, Sabrina. Du bekommst all das, was nach der Verteilung des Erbes noch da ist.«

Totenstille! Nicht einmal Klaras Schluchzen war mehr zu hören. Hatte ich mich verhört?

»Es ist mein letzter Wille, Sabrina«, hörte ich ihn sagen. »Nimm das Erbe an. Es hängt eine Menge Arbeit daran, aber du wärst nicht die Tochter meines Sohnes, wenn du das nicht schaffen würdest. Mein lieber Freund Seeberger wird dir zur Seite stehen und ich hoffe und wünsche …«, sein Blick glitt über die Anwesenden, als ob er jemanden suchte. Er blieb an Onkel Johannes haften. »… ich hoffe und wünsche, dass Johannes dir ebenso zur Seite stehen wird, wie er es all die Jahre auch bei mir tat.«

Plötzlich wusste ich, weshalb ich den Eindruck hatte, dass mein Großvater immer die Person anzusehen schien, mit der er sprach. Hans hatte uns in den Speisesaal geleitet und uns die Plätze zugewiesen, auf denen wir uns setzen sollten. Mein Großvater hatte das bereits zu Lebzeiten angeordnet, deshalb hatte man das Gefühl, er sieht einen direkt in die Augen. Klara und Johannes hielten sich an den Händen. Mein Onkel sah zum Laptop.

»Selbstverständlich werde ich für Sabrina genauso gut arbeiten und sie beraten, wenn sie es wünscht.«

Rau und bebend klang seine Stimme und unsicher schweifte sein Blick zu mir. Ich hatte mich wieder gefasst und Claudias Umarmung half mir, auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben.

»Ich kann mir keinen besseren Vermögensverwalter vorstellen, als dich Onkel Johannes und ich wäre dir sehr dankbar, wenn du diese Aufgaben übernehmen würdest.«

Stolz setzte er sich kerzengerade auf, schob die Schultern nach hinten und reckte seine Brust hervor. Klara küsste ihn liebevoll auf die Wange. Großvaters Stimme erklang abermals.

»Ich denke, ich habe alles gesagt, was ich euch mitteilen wollte. Die Häuser, die Aktien, die Fahrzeuge, kurz gesagt euer Erbe, wird in den nächsten Tagen auf euch überschrieben werden und das Geld auf eure Konten angewiesen. Dr. Seeberger hat bereits mit den Formalitäten begonnen. Dr. Seeberger wird euch nun die Kopien des Testamentes überreichen. Danach möchte ich euch bitten, alle bis auf Sabrina und Dr. Seeberger, den Raum zu verlassen.«

Der Notar klickte mit der Maus auf den Pausenknopf. Großvater hatte leise gesprochen, dennoch wurde er in dem stillen Speisesaal von allen gehört. Stühle rückten und meine Familie erhob sich. Claudia drückte mich noch einmal fest an sich, bevor sie ihren Eltern folgte.

 

Ein zaghaftes Lächeln erschien auf Opas altem, runzeligem Gesicht, als der Notar die Aufnahme weiter laufen ließ. Großvaters Stimme war freundlich und auch Wehmut hörte ich heraus.

»Ich habe dich in all den Jahren sehr genau beobachtet, Sabrina.«

Mir fiel die angenehme Klangfülle seiner Stimme auf, die vorher nicht da gewesen war. Gebannt starrte ich auf den Bildschirm. Ein Satz kam mir in den Sinn.

„Wenn die Stimme wirkt, bekommen die Worte Bedeutung.“

»Oft sah ich deinen Vater in dir. Der gleiche Stolz, dieselbe Lebensfreude und Leidenschaft, mit der er Dinge anging. Du bist ihm in allem sehr ähnlich, Sabrina.«

Verwirrt sah ich auf den Bildschirm. War das derselbe Großvater, der sich nie um seine Enkelin kümmerte? Der sie auf Abstand hielt und nie in die Arme nahm? Erschüttert sah ich Tränen in seinen Augen schimmern. Noch nie habe ich meinen Großvater so emotional sprechen hören.

»Genau wie dein Vater, liebst du klassische Musik. Wie er brachtest du verletzte Tiere ins Haus, die du im Garten gefunden hast. Dies zu sehen und noch mal zu erleben, konnte ich kaum ertragen.«

Traurig sah mich Großvater an.

»Deshalb hielt ich mich von dir fern, Sabrina, es schmerzte zu sehr«, erklärte er.

Ich schluckte den dicken Kloß in meinem Hals hinunter, doch die Tränen konnte ich nicht aufhalten. Dr. Seeberger sah mich unglücklich an.

»Ich habe, als du noch ein Kind gewesen bist, zufällig ein Gespräch zwischen dir und Klara mitangehört.«

Großvater biss sich auf die Lippen, eine Eigenart, die er mit Onkel Robert, Daniel und mir teilte.

»Du wolltest von Klara wissen, warum ich dich nicht lieb habe. Es zerriss mir das Herz, als ich dich weinen hörte. Wie gern wäre ich in dein Zimmer gekommen, um dich fest zu umarmen. Ich wollte dir meine Liebe gestehen, doch ich konnte es nicht. Ich konnte mich nicht überwinden und das tat mir bis zu meinem Lebensende sehr leid. Bitte Sabrina, nehme das Erbe an. Du bist die Einzige, der ich es aus ganzem Herzen schenke.«

Lange sahen wir uns an.

»Ich liebe dich, habe dich immer geliebt«, flüsterte er rau.

Die Aufnahme war zu Ende und der schwarze Bildschirm starrte mich an.