© by Monika Gruber

Fenster nach draußen

 „Bitte nehmen Sie Platz!“ weist mich der Beamte im Dienstanzug an. Er deutet mit seinem rechten Arm auf die Sitzgarnitur hin. Stühle und Bänke mit glattem, pflegeleichtem Bezug in Dunkelbraun, die im Foyer aufgestellt stehen. Das könnte mir Gemütlichkeit vermitteln, wäre ich hier nicht im Gefängnis Krems-Stein. Ein Kollege des Beamten überprüft meine Personalien, die ich ihm hingereicht habe durch die Öffnung in der Glaskabine, wo er Dienst tut. „Sie warten bitte. Sie werden abgeholt und in den Gesprächsraum geführt.“ Weist er mich an. Mein Herz klopft aufgeregt.

 In den kommenden Minuten werde ich Hannes sehen, zum ersten Mal in meinem Leben. In meiner Tasche steckt kein Foto von ihn, ich habe keines, nur seinen Brief mit der Zusage, er habe eine halbe Stunde Besuchszeit genehmigt bekommen. Heute bin ich hier. Zum bestellten Zeitpunkt. Trotz der ungewohnten Umgebung fühle ich mich sicher. Was soll mir schon passieren? Hier im Gefängnis erscheint mir der Raum sicher genug, um einen Besuch bei einem Inhaftierten, bei Hannes zu wagen. Meine Familie hegte große Bedenken. Sprach davon, in Krems-Stein würden die Schwerverbrecher einsitzen. Die Gefährlichen! Mann und Kinder warnten mich, ich könne nie wissen, was hinter der Stirn von eingesperrten Menschen vorgehe. Trotzdem entschied ich mich für einen Besuch im Gefängnis.

 Der Gefängnispfarrer hatte geschrieben, für die meisten Insassen seien Briefe der einzige Kontakt nach draußen. Besuche wären selten, Besuchstermine wären begehrt.   

 Vor gut einem Jahr hatte ich auf einen Aufruf des Gefängnispfarrers geantwortet. Er hatte für die Kirchenzeitung einen Artikel verfasst über seine Arbeit und über Seelennöte von Menschen, die eine Gefängnisstrafe absitzen. Mir fiel sein Aufruf in der Adventszeitung auf, in der hinteren Blatthälfte abgedruckt. Man könne sich melden, Briefe von Gefangenen zu empfangen und Briefkontakt zu pflegen. 

 Wie viele Briefe ich seither von Hannes empfangen habe, weiß ich nicht. Gezählt habe ich sie nie. Manchmal erreichte mich jede Woche ein Brief mit zwei vollgeschriebenen Seiten. Manchmal lag eine Zeichnung dabei, die er mir schenkte, oder ein selbstverfasstes Gedicht. Manchmal dauerte es Wochen, bis eine Antwort von Hannes kam. Später erfuhr ich, dazwischen hatte er einen Selbstmordversuch unternommen. Er wollte sich erhängen. In seiner Zelle. Ein anderes Mal hatte er versucht, sich mit einem scharfkantigen Gegenstand in der Werkstatt die Pulsadern aufzuschneiden. Doch bevor er verblutet war, wurde er von einem Wärter aufgefunden und er wurde auf die Krankenstation verlegt.   

 In Hannes Briefen erfuhr ich von seiner Kindheit. Vom Aufwachsen in einem Kinderheim und unzähligen Fluchtversuchen, mit denen er von dort für immer fliehen wollte, doch wieder und wieder zurückgebracht wurde. Erfuhr von seiner ersten Liebe, vom Zerbrechen seiner Ehe und der unstillbaren Sehnsucht, seinen erwachsen werdenden Sohn wiederzusehen. Doch der hatte sich von seinem Vater distanziert und jeglichen Kontakt zu ihm abgebrochen.

 In den Briefen vertraut sich Hannes mir an. Er öffnet sich und erzählt von sich und seinem „verpfuschten Leben“, wie er es manchmal nannte. Ich interessiere mich für diesen Menschen und seine Lebensgeschichte. Für den Menschen, der sich hinter dem Wort „Gefängnisinsasse“ verbirgt.

 Der Beamte bittet mich, ihm zu folgen in lange tageslichtarme Gänge. Türen dazwischen, die der Diensthabende aufschließt und hinter sich wieder versperrt. Ich kann jede Schlüsselumdrehung hören. Freundlich werde ich in den Gesprächsraum gewiesen und dort gebeten, mich an einen bestimmten Platz zu bequemen. Mein Herz klopft, ich spüre das Pochen bis in den Hals.
Ich warte.
Minuten verstreichen.
Hannes kommt in den Raum, an Handschellen geführt von einem Beamten. Hannes darf mir gegenüber Platz nehmen. Von Angesicht zu Angesicht sitzen er und ich da und wir schauen einander zum ersten Mal an. Getrennt durch eine stabile Glaswand, die eine Sicht auf das Gegenüber oberhalb der Taille ermöglicht. Wir nehmen den Telefonhörer in die Hand und wir beginnen miteinander zu sprechen. Ein Beamter bleibt die ganze Zeit im Raum. Er hört jedes Wort mit in den nächsten zwanzig Minuten.
Am Ende werde ich angewiesen „Bitte verlasen Sie den Platz!“ und ich werde von einem Beamten durch die langen Gänge ohne Tageslicht zurück zum Ausgang der Gefängnisanstalt geführt.