© by Eva Novotny

Geschichte, die das Leben schrieb

Karl und Anton

Unter meinen Büchern steht ein kleines Buch der Geschichte Wiens. Als ich es zum Flohmarkt geben wollte, blätterte ich es durch und fand die Widmung:

„Meinem braven Schüler Stefan Novotny von seinem Lehrer Karl Just!“

In Jägerndorf in Schlesien (heutige Tschechoslowakei) gab es in den Siebzigerjahren des 19.Jahrhunderts wenig Arbeit. Deshalb zog der Tischler Anton Just mit seiner Frau Marie nach Wien. Im kaiserlichen Wien wurde viel gebaut und Anton fand Arbeit und konnte eine kleine Wohnung im 10. Bezirk mieten. Es kamen fünf Söhne und eine Tochter auf die Welt. Der Älteste wurde ebenfalls Anton getauft, der Jüngste bekam den Namen Karl, die mittleren zwei starben als Kleinkinder, das Nachzügler-Mädchen hieß Mizzi.

 Marie war fleißig und sparsam, aber es fehlte an allem, die Familie war sehr arm. Als Vater Anton dann noch seine Arbeit verlor, begann er aus Verzweiflung zu trinken, worüber Marie sehr unglücklich war. Sie stritten viel, Anton verlangte viel von seinen Söhnen und schlug sie, wenn sie nicht folgten. Marie, eine warmherzige Frau, litt unter der Situation. Sie musste sich um eine Arbeit umsehen um Geld für die Familie zu bekommen. Bei der Hausherrnfamilie durfte sie putzen. Deshalb gab sie den dreijährigen kleinen Karl in eine Kinderbewahranstalt. Die Trennung von der Familie war für den sensiblen Buben ein großer Schmerz.  Karl bekam die Kinderfraisen. Das sind Krampfzustände, die Mangelernährung und Angst als Ursache haben. 

In seiner Lebensgeschichte, die er seinem Bruder zum 70. Geburtstag schenkte, schrieb Karl, dass er viele Schläge von der Wartefrau des Kinderheims bekommen hatte, weil er in der Nacht ins Bett gemacht hatte. Das passierte ihm auch noch mit 12 Jahren, als er in Thernberg in einem Heim seine Ferien verbringen musste.

In der Schule waren beide Brüder sehr strebsam und fleißig. Die Lehrer schätzten Karl sehr und schenkten ihm Bücher, Hefte und Schreibmaterial. Er war sehr brav,  im Gegensatz zu seinen Mitschülern und musste oft die Aufsicht über diese -80 an der Zahl- übernehmen, was zur Folge hatte, dass ihn rachedurstige Mitschüler am Heimweg überfielen und verprügelten.

Nach der Volkschule kam Karl in die Bürgerschule und Anton, der drei Jahre älter war, besuchte die Realschule. Karls Lehrer verschafften ihm nach der Bürgerschule einen Platz im Lehrerseminar in St. Pölten, worüber Karl sehr glücklich war, aber er kränkelte ständig. Gelenksrheumatismus plagte ihn und ein Herzklappenfehler entwickelte sich daraus.  Spitalsaufenthalte folgten wegen einer Gelbsucht, einer Gesichtsrose und einer schmerzhaften Beinhautentzündung im Mund, so dass er viele Unterrichtsstunden versäumte. Trotzdem schloss er das Lehrerseminar mit Auszeichnung ab.

Anton machte in dieser Zeit nach der Realschule das Einjährig-Freiwillige Jahr beim Militär, in dem er auch in Frankreich ausgebildet wurde.

Anton kümmerte sich nett um seinen Bruder, der ihm wegen seiner ständigen Schwäche Sorgen bereitete. Wenn er ihn auf Wanderungen mitnahm, mussten sie umkehren, weil es Karl so schlecht ging.

Karl hatte 1903 auch die Befähigungsprüfung für den Unterricht an der Bürgerschule gemacht und besser verdient. Das kam auch seiner Mutter Marie, bei der er noch wohnte, zugute, die sich endlich keine Geldsorgen mehr machen musste.

Karl hörte von der Kur in einer berühmten Kneippanstalt in Brixen/Südtirol und gönnte sich eine zweiwöchige Kur, die ihm sehr gut tat.

Als er heimkehrte, erzählte er Anton davon, dass er in seiner Pension von einer netten Dame und ihrer Tochter betreut worden war und sich in Brixen sehr wohl gefühlt habe.

Anton arbeitete nach dem Militärdienst als Buchhalter bei der Firma Alder in Oberlaa. Er stöhnte oft über die viele Arbeit und die vielen Überstunden und fuhr auf Anraten seines Bruders nun auch in die Kneippanstalt in Brixen. Er wohnte, wie Karl, im Gästehaus der Frau Hamvady und lernte so deren Tochter kennen. Einmal plauderte er mit seiner Hausfrau und da fragte sie ihn, ob er nicht ihrer Tochter Camilla ein paar Stenographie Stunden geben könne. Das tat er natürlich gern, denn das Fräulein Camilla gefiel ihm.

Leider war sein Urlaub schon bald zu Ende und er fuhr zurück nach Wien.

Aber die herzige Camilla ging ihm nicht aus dem Kopf. So verbrachte er auch den nächsten Urlaub in Brixen. Es war im Jahr 1902. Als er dann Camilla zu einem Spaziergang einlud, da war es um ihn geschehen. Der Funke war übergesprungen. Bald feierten sie Verlobung. Doch Anton musste wieder zu seiner Arbeit nach Wien und Camilla musste ihrer Mutter, die Witwe war, helfen die Kurgäste zu versorgen. So schrieben sie einander zweimal wöchentlich, ein Jahr lang, lange Briefe bis sie 1903 heirateten.

Anton hatte seinen Dienstgeber Herrn Alder um eine Wohnung gebeten und holte seine Camilla nach Wien. Obwohl sie die Wohnung nett eingerichtet hatten, fühlte sich Camilla nicht recht wohl in der Großstadt Wien.

Da kam es, dass Anton lungenkrank wurde und Blut spuckte. Die Ärzte rieten ihm, von dem verrauchten Wien in bessere Luft wegzuziehen und so zog das junge Paar nach Brixen. Camillas Mutter war glücklich darüber und schenkte ihnen ein Grundstück, auf dem sie nach einigen Jahren ein Haus bauten.

Die Kneippanstalt in Brixen, die Camillas Onkel gehörte, war damals in ganz Europa bekannt und der Ansturm der Gäste groß. So sollte das neu erbaute Haus auch als Gästehaus dienen, denn das alte Haus, in dem Camillas Mutter vermietete, war immer voll mit Gästen. Der Onkel Camillas, der auch gerade Bürgermeister war, bot Anton an, das Amt des Stadtkämmerers zu übernehmen. Eine verantwortungs-volle Aufgabe, die der gewissenhafte Mann zur Zufriedenheit ausübte. Karl kam öfter nach Brixen und verbrachte dort seinen Urlaub, nachdem die Mutter Marie gestorben war und der Vater zu einer Kroatin gezogen war.

Karl heiratete 1917 , mitten im Weltkrieg, aber Anna erkrankte schwer und starb neun  Jahre nach der Hochzeit an einer Lungenentzündung. Anna hatte eine behinderte Tochter in die Ehe gebracht, um die sich Karl nun allein kümmern musste und sie später in der Irrenanstalt Sternberg (Tschechien) unterbrachte.

Als er fünf Jahre später seine zweite Frau Johanna heiratete, hatte er in ihr eine liebevolle Pflegerin für sein Herzleiden..

Nachdem der erste Weltkrieg ausgebrochen war,  und viel Schreckliches sich ereignete  verloren die Brüder den Kontakt zueinander.

 Österreich  verlor den Krieg und Südtirol und  Italienische Generäle  zogen in die Brixner Gästewohnungen  und  die Stadtverwaltung wurde mit Italienern besetzt. Anton wurde durch Intrigen verjagt und bezichtigt, sich bereichert zu haben, was den ehrlichen Mann unglaublich kränkte. Er  musste als Wiener Südtirol sofort verlassen. Camilla und ihre drei Kinder harrten noch 4 Jahre in Brixen aus.

Anton fand erst Jahre später   Arbeit und Haus in Linz. Mit vielen Schwierigkeiten hatte Camilla ihr Haus und das Haus ihrer Mutter in Brixen verkauft.  

Anton und Camilla waren meine Großeltern. Sie hinterließen mir einen reichen Schatz an Briefen, die sie einander im Verlobungsjahr 1902 geschrieben hatten.

 

Als ich nach dem Tod meines Schwiegervaters seine Bücher sichtete, fand ich das Buch der Geschichte Wiens, das mein Großonkel meinem Schwiegervater, der aus ähnlich armen Verhältnissen kam, wie einst er, geschenkt hatte.

Schade, dass ich ihn nicht mehr über seinen Lehrer befragen konnte.