© by Wilhelm Maria Lipp

Karola

 Karola war eine besondere Frau. Lehrerin, Malerin, Künstlerin mit besonderem Farbverständnis, aber irgendwie Einzelgängerin, obwohl auch zeitweise extrovertiert. Und sie war ledig. Dann wurde sie guter Hoffnung und bekam einen Sohn. Die Leute in der kleinen Stadt waren neugierig. Alle wollten wissen, wer es geschafft hatte, Karola so nahe zu sein, dass sie ein Kind empfangen konnte. Doch sie schwieg. Mit keinem Hinweis deutete sie auf den Kindesvater. Er war und blieb ein geheimnisvoller Mann.

Allerlei Überlegungen wurden angestellt. Ob sie sich in einer Klinik behandeln hat lassen, oder ob sie sich nach einer ihrer Vernissagen unter Alkoholeinfluss hingegeben hatte? Viele Mutmaßungen wurden angestellt, die absurdesten Ideen kursierten.

Ihr Sohn war stets abgeschirmt. Sie kümmerte sich liebevoll um ihn. Dann wurde er älter und kam in den Kindergarten. Auch dort war er ein besonderes Kind. Stets aufmerksam, neugierig und auch künstlerisch begabt. Ein Blatt Papier, ein paar Stifte, und er war glücklich und malte schon im Kindergarten seine Bilder. Er konnte auch gut singen und tat es gerne, wenn er auch alleine bei seinem Bild saß.

Es war ein katholischer Kindergarten. Traditionell wurden die katholischen Festtage gefeiert. Am Morgen wurde gebetet, der tägliche Gruß war „Grüß Gott!“, und immer wieder kam auch der Pfarrer auf Besuch.

Dass dort auch die Kirchenzeitung für die pädagogischen Betreuerinnen abonniert war, war selbstverständlich. Auch die Kinder durften im Kirchenblatt blättern, waren doch dort vor allem katholische oder wenigstens christliche Motive, die man abzeichnen konnte.

Wieder einmal hatte Karolas Sohn die Kirchenzeitung bei seinem Tischchen, wo er andächtig malte. Er blätterte die Seiten durch, und plötzlich stutzte er, deutete auf ein Bild und sagte: „Da ist mein Papa!“ Nun war es heraus, bald wusste es die ganze kleine Stadt. Ein katholischer Priester aus einem anderen Ort hatte die Festung Karola erobern können.

Dieser Priester nahm seine Vaterschaft so ernst, dass es mit Karola und seinem Sohn regelmäßige Treffen gab. Der Sohn wusste, wer sein Vater war, und dass diese kleine Familie auch regelmäßig gemeinsam Urlaub in einer etwas weiter entfernten Umgebung machte.

Seit ihr Sohn das Geheimnis ausgeplaudert hatte, wurde Karola mit anderen Augen gesehen.