© by Michaela Lipp

Therapiestunde

 

Jetzt ist es soweit, ich soll in eine Gruppe gehen. Schon viele Sitzungen waren Einzelgespräche. Dabei fühle ich mich hier sehr wohl. Auch die Wohnsituation ist sehr gut. Wir alle sind verwaiste Zwillinge.

Einmal in der Woche hat jeder von uns sein Gespräch mit unserem Therapeuten. Aber es gibt auch Gruppensitzungen, das ist der nächste Schritt für uns, offen zu sein, vor allen zu reden. Kein einfacher Weg, aber sehr effektiv, habe ich mir sagen lassen.

Nun ist es Wirklichkeit. Morgen bin ich das erste Mal dabei. Ich habe schon heftiges Herzklopfen, aber ich will das schaffen. Es kostet soviel Kraft, jeden Morgen aufzustehen und zu realisieren, dass der zweite Teil weg ist. Der mit dem ich mein ganzes Leben verbracht hatte. Der, der die gleichen Ziele hatte wie ich. Mit dem ich planen konnte, lachen und weinen konnte. Nur das Weinen, das habe ich zuletzt nur mehr alleine gemacht. Es ist so schwer.

Es ist Zeit, ich gehe in den Raum. Ein großer Kreis, dort sitzen sie. Alle anderen, die auch einmal zu zweit waren und jetzt alleine sind.

Unser Therapeut sitzt mittendrin. Er übergibt das Wort an die erste. Diese stellt sich vor, Liese heißt sie und ihre Lotte ist weg. Mehr muss sie nicht sagen.

So geht es in der Runde, jeder stellt sich vor, Maria ohne Anne, Hanne ohne Lore, Hans ohne Peter, auch ein Klaus ist dabei, auch ohne Jürgen. Eine Maria, deren Magdalena nicht mehr da ist und so weiter. Und ich, als neuer, ich bin Xaver ohne meinen Franz. Schon bei der Erwähnung seines Namens weine ich. Obwohl ich das doch geübt hatte. Franz, Franz, Franz …

Ich schnäuze mich und dann schaue ich in die Runde. Viele von ihnen haben jetzt Tränen in den Augen, aber sie lächeln mich an. Voller Zuversicht.

Und dann kommt der nächste Teil, der ist auch schwer: Wann haben wir unseren Zwilling das letzte Mal bewusst wahrgenommen. Ich glaube, bei den meisten wars es vor einem Waschgang in der Maschine.

Einige wenige können sich erinnern, dass ihr zweites Ich kaputt war und weggeworfen wurde. Und wieder fließen Tränen in der Gruppe.

Unser Therapeut lässt uns weinen, dann aber spricht er von dem, was wir nun vorhaben. Wozu braucht man eine einzelne Socke? Solche sind wir nämlich.

Jeder von uns: Ein Strumpf ohne dem zweiten dazu.

Es gibt ja einige Widereingliederungsprojekte:

Maria will als Putzfrau arbeiten, sie kann so gut Haare festhalten und kann über einen Wischer gezogen werden.

Hanne wurde schon einmal als Geldversteck benutzt und hofft, zum nächsten Weihnachten passiert das wieder.

Hans strebt die Ausbildung als Handpuppe an.

Und das neueste Projekt ist, dass sich zwei Socken, die sehr unterschiedlich aussehen, aber von der gleichen Größe sind, als Paar ausgeben. Das sei die neueste Mode.

Ich kann mich noch gar nicht entscheiden. Es gäbe noch die Möglichkeit, gefüllt mit Katzenstreu als Feuchtigkeitsaufnehmer in einem Auto zu liegen oder zu einem Kinderspielzeug mit Damenstrümpfen gefüllt zu werden. Aber ich muss ja nicht. Bald ist die Sitzung zu Ende, wir dürfen wieder in unsere Schublade der einzelnen Socken.

Als wir zurückkommen, sind wir wieder um einen mehr. Dieser liegt in der Ecke, und auch er ist ein Häufchen Elend.

Wir alle haben die Anweisungen, Neuankömmlinge in Ruhe zu lassen, bis sie von sich selbst aus auf uns zugehen. Diese Socke kommt mir bekannt vor, aber sie ist recht klein und zartrosa. Ich schau an mich herunter. Strahlend weiß war ich, als ich hier ankam, inzwischen bin ich auch leicht angegraut. Ich gehe näher zu dem Neuen.

„Hallo du, ich glaube fest, du hast das gleiche Schicksal wie wir alle hier. Du bist alleine. Ich heiße Xaver.“ Er schluckt, aber dann spricht er mit einer dunklen, sympathischen Männerstimme.

„Ich wurde zu heiß gewaschen und verfärbt, einst war ich weiß und größer. Ich bin es, dein Franz. Erkennst du mich nicht, Xaver?“

 

Jetzt weint die ganze Einzelsockenschublade.