© by Linde Pauschenwein

Wendepunkte – Geschichten aus meinem Leben

Jeder Augenblick unseres Lebens könnte zu einem Wendepunkt werden, ob er ein Glücksfall ist oder sich negativ auswirkt, erkennt man erst nach einiger Zeit.

 „Die Brille passt nicht, ich sehe alles verschwommen!“, sagte ich zu dem jungen Verkäufer im Geschäft eines Brillendiscounters.

„Gnä`Frau, sie müssen Ihnen on die Bifokalbrille g`wöhnen! Es wird scho passen!“, erwiderte er eher ungehalten.

Unwillig bezahlte ich, steckte die neue Brille in die Tasche und behielt für die Heimfahrt die alte auf. Dies war lebensrettend, wie leicht hätte ich mit dieser neuen Brille einen Autounfall bauen können. Tags darauf kam eine Galeristin aus Wien, um meine neuesten Bilder für eine geplante Ausstellung anzusehen. Ich empfing sie in der schicken Armani-Brille mit leichtem Schwindelgefühl.

Nach einer kurzen Besprechung wollte ich die Galeristin in meinen Atelierraum eine Etage tiefer führen. Ich stieg auf die erste Stufe, alles war verschwommen. Heftiges Schwindelgefühl überkam mich, ich sah keine Stufenkanten und stürzte kopfüber zwölf Stufen hinab. Im Bruchteil einer Sekunde wurde mir klar, wenn ich mit dem Kopf unten auf den Fliesen aufschlage, werde ich tot sein. Intuitiv legte ich die rechte Hand schützend vor den Kopf. Sekunden später hörte ich den Aufschrei der Galeristin, zeitgleich fühlte ich einen heftigen Schmerz. Ich konnte mich nicht bewegen.

„Im Nebenhaus wohnt mein Mann, er ist Arzt“, stöhnte ich kaum vernehmbar. Mein Noch-Ehemann kam nach wenigen Minuten gelaufen, für mich eine gefühlte Ewigkeit. Er versuchte mich zu beruhigen, bis die Rettung kam. Mit Luftpolsterschiene stabilisiert brachte man mich ins Krankenhaus.

„Es handelt sich um einen Trümmerbruch des Radiusköpfchens im rechten Ellbogen und massive Prellungen an Schulter und Hüfte“, wurde mir sachlich vom Röntgenologen mitgeteilt. „Morgen bekommen Sie eine Teilprothese. Es wird Monate dauern, bis die Hand brauchbar ist.“

„Eine leichte Behinderung könnte bleiben! Sechs Wochen nach der OP kommen Sie auf Reha“, ergänzte ein weiterer Arzt lapidar, ohne jedes Mitgefühl. Infusionen gegen die unerträglichen Schmerzen wurden mir verabreicht. Der Schock war groß. Meine Gedanken rotierten. Viele Monate Therapie, bleibende Behinderung? Dazu die geplante Scheidung in einigen Wochen. Wie soll das Leben weitergehen? Die finanzielle Zukunft wird von Bildverkäufen bei Ausstellungen oder im Atelier abhängen. Verzweiflung kam auf, Existenzängste krochen hoch.

Könnte ich mit der linken Hand malen? Ich wollte es ausprobieren. Freundin Helga brachte mir Bleistift, Kuli und Schreibblock. Am Tag nach der Operation begann ich trotz starker Schmerzen mit Schreibübungen. Nach einigen Tagen glich das Gekritzel immer mehr einer Unterschrift.

Freundin Doris dachte daran, wie wichtig für mich klassische Musik ist. Sie versorgte mich mit einem Walkman, auf dem all meine Lieblingsstücke von Beethoven und anderen Klassikern downgeloadet waren. Damit konnte ich mein seelisches Gleichgewicht wieder erlangen. Aus meinem Atelier ließ ich mir Kunst- und Lyrikbücher bringen.

Heute weiß ich, neben meinen Brüdern, Schwägerinnen und Freundinnen, waren Musik, Lyrik, kreative Gedankenspiele jene Faktoren, die meine Widerstandsfähigkeit stärkten und mir Mut machten. Die wichtigste Motivation aber war meine Tochter, für sie wollte ich wieder voll einsatzfähig werden. Dazu kam als logische Überlegung, die Einschränkungen der Hand würden von Monat zu Monat geringer. Die Akzeptanz der Situation würde mich vielleicht zu neuen Lösungen führen. Ich konnte auf die Hilfe von Familie und Freundinnen zählen. Mit den Jahren war ich durch die Herausforderungen des Lebens mental stärker geworden, eine Tatsache, die nun unterstützend wirkte.

Das Wort Resilienz kannte ich damals nicht. Resilienz ist laut Duden die psychologische Kraft, die Menschen dazu befähigt, mit Niederlagen und Schicksalsschlägen fertig zu werden.

Ein Aphorismus von Voltaire fiel mir ein: „Eines Tages wird alles gut sein, das ist unsere Hoffnung.“ 

 Nach der Implantation einer Teilprothese steckte mein rechter Arm sechs Wochen in einem dicken Gipsverband vom Daumengrundgelenk bis unter die Schulter, im Winkel von 100°. Der Gips wurde durch einen flexibleren Verband ersetzt, dennoch ließ sich mein Arm nicht strecken. Jede Bewegung schmerzte mehr als zuvor. Sobald die Wunde verheilt sei, würde ich für drei Wochen REHA bewilligt bekommen.

Trotz der positiven Grundhaltung war mein Leben aus den Fugen geraten. Ich wohnte mit meiner Tochter seit einigen Monaten im kleinen Haus mit angeschlossenem Atelier am Ortsende. Den Alltag mit der linken Hand zu meistern, gestaltete sich schwieriger, als ich gedacht hatte. Da ich noch nicht Autofahren konnte, wurde selbst das Einkaufen im 1.5km entfernten Supermarkt zur Herausforderung. Ein Trolley war die Lösung. An der Supermarktkasse bezahlte ich automatisch mit der rechten Hand. Das Wechselgeld, die Münzen fielen mir aus der Hand, weil die Drehung des Handgelenkes nicht möglich war, es war mir peinlich. Nach wenigen Tagen hatte ich mich auf die linke Hand umgestellt.

Meiner Tochter hatte ich Wochen vor dem Sturz versprochen, eine Geburtstagsfeier mit ihren Freundinnen zu organisieren. Torte backen, Spagetti abseihen, Pasta kochen mit einer Hand – irgendwie habe ich es geschafft. Die Kinder hatten Spaß, meine Tochter war glücklich. Ich vergaß die Schmerzen für einen Nachmittag.

Dann war es so weit, ich fuhr für drei Wochen zur REHA. Beim Aufnahmegespräch gab ich als Ziel weitgehende Streckung des rechten Armes und Verbesserung der Supination an, denn die Außendrehung des Handgelenkes war immer noch nur unter Schmerzen möglich.

„Bitte geben Sie mir den besten Therapeuten. Ich möchte nach drei Wochen wieder malen und schreiben können“, bat ich die Ärztin. Diese sah mich etwas mitleidig an und meinte:

„So schnell geht das nicht! Sie müssen Geduld haben, so wie alle Patienten im Haus. Wir sind keine Wunderwuzzis, aber wir tun unser Bestes!“

„Ich arbeite mental mit, das wirkt Wunder!“, erwiderte ich, vom Gesagten überzeugt. Den verständnislosen Blick der Ärztin werde ich nie vergessen. „Und bitte teilen Sie mich in die Maltherapie ein“, fügte ich hinzu.

Die erste Therapiewoche war hart, ich übte mehr, als mir aufgetragen wurde, ohne über die Schmerzgrenze zu gehen, denn eines hat mir der junge engagierte Physiotherapeut eingebläut: Die Schmerzgrenze nie überschreiten!

Es war Sommer, drei Wochen Sonnenschein mit wenigen Gewitterfronten. Der weitläufige Garten rund um den Weißen Hof war eine erholsame Oase der Stille. In der therapiefreien Zeit spazierte ich viele Runden durch die gepflegte Parkanlage, tankte Energie in der Natur und machte Übungen für Arm und Hand. Eine funktionstüchtige Hand war zum finanziellen Überleben notwendig.

In den Nächten träumte ich von Vernissagen und Lesungen. Ich versuchte mich mit luziden Träumen positiv zu beeinflussen. Ich praktizierte die Klarträume schon länger, in denen ich selbst über den Inhalt des Traums entscheiden konnte. So entstanden viele neue Acrylbilder in meinem Kopf, die ich später malen würde. Ich glaubte daran, dass alles so sein wird, nie habe ich diese Hoffnung aufgegeben.

Wie besprochen, wurde ich in der zweiten Woche zur Maltherapie eingeteilt. Ich wollte mit der linken Hand zu malen und zu schreiben beginnen. Mit der Therapeutin konnte ich ein kurzes informatives Gespräch führen. Die erste Maltherapiestunde war für mich eine starke emotionale Erfahrung, ich erlebte die tiefenpsychologische Wirkung der Farben und des Gestaltens bei anderen Patienten mit. Wie wichtig Kreativität für mein Leben ist, wusste ich längst. Nie hatte ich mir Gedanken gemacht, was Ideenreichtum für jeden Einzelnen bewirkt.

Überpünktlich kam ich als erste Patientin in den Therapieraum, ein Tisch wurde mir beim Fenster, mit Blick ins Grüne, zugeteilt. Die Tür stand weit offen, ein etwa 35-jähriger, bulliger Mann trat kurz nach mir ein. Ich dachte, er habe sich im Raum geirrt, denn beide Hände waren oberhalb des Handgelenkes amputiert. Die Therapeutin begrüßte ihn freundlich mit Vornamen und erklärte mir, Herr K habe durch einen Stromunfall beide Hände verloren, er malt gerne und kommt jeden Tag. Ich sah sie verwirrt an, wusste nichts zu sagen. Herr K hatte einen eigenen, höhenverstellbaren Tisch. Die Therapeutin stellte zwei Gurkengläser mit Wasser und Wasserfarben darauf, fixierte zwei große Blätter Zeichenpapier mit Klebeband, dann staunte ich noch mehr. Sie nahm große dicke Borstenpinsel und klebte auf jeden Armstumpf je einen Pinsel mit hautfreundlichem Leukoplast. Freudestrahlend begann Herr K am Tisch stehend mit großen gestischen Bewegungen bunte abstrakte Bilder zu malen. Sprachlos setzte ich mich an meinen Tisch und versuchte mit der linken Hand zu zeichnen. Der Raum füllte sich mit fünf weiteren Patienten, jeder bekam einen Platz zugeteilt und arbeitete still vor sich hin. Im Rollstuhl sitzend brachte man zuletzt ein sechsjähriges, beinamputiertes Mädchen mit blonden Locken an den Nebentisch, alle begrüßten sie freudig. Ich lächelte sie an und fragte nach ihrem Namen.

 „Ich heiße Maria“, sagte sie und strahlte mich mit ihren aufgeweckten blauen Augen an. Sofort begann sie zu malen. Mit Wasserfarbe rote Kreise, Spiralen und Streifen auf Zeichenblätter, zuletzt verschwammen alle Konturen ineinander. Im Fünfminutentakt je ein Blatt nur rot. Das Wasser im Gurkenglas war rot gefärbt, weil sie den Pinsel immer wieder eintauchte. Ich war zu abgelenkt, um mich auf meine Arbeit konzentrieren zu können.

„Du magst die Farbe Rot gerne“, flüsterte ich ihr zu. Maria sah mich traurig von der Seite an.

„Nein, mag ich nicht! Das ist der Rotwein, den mein Papa immer getrunken hat“, flüsterte sie zurück und zeigte auf das Gurkenglas und danach auf ihre Blätter. „Und das ist das Blut aus meinem Bein, als mein Papa mit dem Traktor drübergefahren ist. Er hat mich nicht gesehen, weil er betrunken war.“

Das war zu viel für mich. Betroffen stand ich auf, streichelte Maria kurz übers Haar, eine Entschuldigung murmelnd, ging ich mit tränennassen Augen hinaus.

Nach einem weiteren Gespräch mit der Maltherapeutin, bekam ich am Ende des lichtdurchfluteten langen Ganges nahe dem Krankenzimmer Tisch und Sessel aufgestellt. Aquarellkasten, Papiere und Pinselmappe hatte ich aus meinem Atelier erhalten. Ich war dankbar für diesen privaten Platz zum Malen.

Zuerst übte ich die Pinselführung mit der linken Hand, dies gelang nicht zufriedenstellend. Ich ließ mich nicht entmutigen, probierte es vorsichtig mit der Rechten. Mit Unterstützung der linken Hand gelang es mir schließlich, den Pinsel mit der rechten über das Aquarellpapier zu führen. Da für mich Bäume eine besondere Symbolkraft besitzen, malte ich vier Bäume, vom Sturm gepeitscht in den vier Jahreszeiten. Dazu schrieb ich den Haiku:

Den Lebensstürmen

Voll Optimismus trotzen,

was bleibt, ist Hoffnung!

 

Nun konnte ich tatsächlich wieder Hoffnung schöpfen, das Malen würde ich nie aufgeben, das stand fest. Diese vier Aquarelle machten mich stolz und ließen mich mutig in die Zukunft blicken.

Bei der Abschlussbesprechung nach drei Wochen überreichte ich der Oberärztin mit der zu 170° gestreckten rechten Hand die vier Aquarelle. Staunend erfreut und überaus freundlich sagte die Ärztin zu mir:

„Gratuliere! Als Schulmedizinerin glaube ich nicht an Wunder. Seit ich Sie kenne, glaube ich an das Wunder der eigenen Motivation. Sie sollten Ihre positive Geschichte vielen Menschen erzählen. Es könnte Vorbildwirkung haben.“

Jene schicksalhaften Begegnungen am Weißen-Hof haben mein weiteres Berufsleben nach der Scheidung geprägt.

Gemessen an den Schicksalsschlägen, von denen ich als Patientin während des Aufenthaltes am „Weißen Hof“ erfahren habe, erschien mir meine Situation nichtig und klein.

Die erste Maltherapiestunde hatte mich tief berührt, als ich sah, welch positive Auswirkung das Malen bei schwer beeinträchtigten Patienten zeigte. In der Parkanlage des REHA-Zentrums suchte ich einen ruhigen Platz zum Nachdenken. Immer wieder kamen Existenzängste hoch. Ich war Mitte vierzig, hatte den Lehrberuf für die Familie aufgegeben, nicht jedoch die Malerei. Wegen Lehrerüberschusses gab es keine Anstellung für mich. Diese Absage wurde mir schriftlich vom Ministerium zugestellt. Außerdem wohnte ich am Land, 45km von Wien entfernt. Ich hoffte, es würde eine andere Lösung geben. Plötzlich kam die richtungsweisende Idee! Warum nicht einen neuen Weg beschreiten?

Gegen Ende des Aufenthalts im Rehazentrum führte ich ein letztes informatives Gespräch über die Möglichkeiten der Ausbildung zur Maltherapeutin. Ich erhielt wichtige Buchtipps. Die Therapeutin meinte, als ausgebildete Pädagogin und Künstlerin hätte ich die besten Voraussetzungen. Dazu kam die langjährige Erfahrung mit Patienten in der Praxis meines Exmannes. Nach diesem positiven Dialog hatte ich ein neues Ziel vor Augen. Ich wollte mit kranken und körperlich beeinträchtigten Menschen im Rollstuhl, die zumindest eine Hand einsetzen können, malen. Das Entdecken der eigenen Kreativität wird ihnen neuen Lebensmut in herausfordernden Lebensphasen schenken, davon war ich überzeugt. Ich ließ mir die ersten Bücher über Kunsttherapie zuschicken und begann mit dem Selbststudium. Im Herbst, als ich wieder Autofahren durfte, besuchte ich Wochenendkurse für Maltherapie in Wien, eine berufsbegleitende Ausbildung.

Nach einem Jahr suchte ich einen Arbeitsplatz. Schicksalhaft fügte sich eins ins andere. Ein neues Reha-Zentrum wurde wenige Kilometer von meinem Wohnort entfernt errichtet. Schon während der Bauphase wurden TherapeutInnen gesucht. Ich schickte ein ausführliches Bewerbungsschreiben und fragte, ob Maltherapie vorgesehen ist. Dies sei nicht im Konzept, mein Bewerbungsschreiben habe dennoch Interesse geweckt, ich möge zu einem Gespräch in den grünen Container kommen, war die überraschende Antwort. Wochen später saß ich im Container und legte ein ausgearbeitetes Konzept vor. Es ging um mein finanzielles Überleben.

„Hört sich innovativ an, ich werde das Schreiben an den zukünftigen Primar weiterleiten“, bekam ich vom Therapie-Koordinator, der für die Auswahl der Therapeuten zuständig war, zur Antwort. Monate später, kurz nachdem das Reha-Zentrum eröffnet hatte, wurde ich zu einem Gespräch mit dem Primar eingeladen. Als Lektüre des letzten Jahres hatte ich, begleitend zu den Wochenendkursen, die Bücher von Prof. Karl-Heinz Menzen, Gertraud Schottenloher und vielen anderen Kunsttherapeuten ausführlich studiert. In einigen Büchern wurde über die positive Wirkung der Arbeits- und Beschäftigungstherapie berichtet. Jene Heilmethode, die durch Anleitung zu handwerklicher Tätigkeit seelische und körperliche Schädigungen auszugleichen versucht. Um die Feinmotorik der Patienten zu verbessern, könnte ich zusätzlich zur Maltherapie kunsthandwerkliche Workshops anbieten. Seidenmalen, Arbeiten mit Speckstein und Peddigrohr nannte ich.

Das Gespräch verlief positiv. Zwei Wochen später begann ich die Mal- und Kreativgruppen im Kurzentrum aufzubauen. Es war eine erfüllende, Freude schenkende, sinnvolle neue Tätigkeit, die ich bis zur Pensionierung ausübte.

Die Einschränkungen meines Armes und der Hand ließen sich bis heute problemlos in den Alltag integrieren.

 Diese persönliche Lebenserfahrung ist ein Beweis, dass Schicksalsschläge auch positive Auswirkungen haben können.