© by Claudia Dvoracek-Iby

 

LUX 

 2. Juli

Ein heißer Sommertag kündigt sich an. Frühmorgens gieße ich all die Sträucher und Pflanzen, muss lachen, weil Lux übermütig unter dem Gartenschlauch hin und her saust und bellend nach dem Wasserstrahl schnappt. Es freut mich, dass Lux sich so wie ich schnell hier eingelebt hat, sich zuhause fühlt – wieder kann ich kaum glauben, dass dieser blühende Garten und das frisch gestrichene kleine Haus tatsächlich mir gehören. Meine Großeltern haben mir dieses Grundstück, ihren Nebenwohnsitz, letztes Jahr überschrieben. Wie dankbar ich ihnen dafür bin! Ja, denke ich, es ist die richtige Entscheidung gewesen, die Stadtwohnung zu kündigen und, nach Renovierungsarbeiten im Frühjahr, hierher an den Stadtrand zu ziehen. Auch meinen Job habe ich gekündigt, nachdem ich die Zusage einer Kanzlei in der Nähe bekommen habe. Anfang September ist mein erster Arbeitstag, es liegen also zwei freie Monate vor mir, eine Zeit, die ich zum Krafttanken nutzen will, dazu, den Verlust von Anna zu verarbeiten.

 

5. Juli

Hitze umfängt mich, als ich aus dem klimatisierten Lebensmittelgeschäft trete. Geblendet von der Mittagssonne taste ich nach Lux‘ Leine, die ich auf der dafür vorgesehenen Stelle vor dem Geschäft befestigt habe. Meine Hand greift ins Leere. Ungläubig sehe ich auf den leeren Platz, auf den Lux sich doch vor kurzem folgsam hingelegt hat, um auf mich zu warten, starre auf den nackten Boden, kann nicht begreifen, dass er nicht hier ist.

Am Abend habe ich es noch immer nicht realisiert. Jemand muss Lux gestohlen haben. Linda, meine Nachbarin, hat mir geholfen, eine Vermisstenanzeige anzufertigen. Bei brütender Hitze haben wir gemeinsam dutzende Kopien davon in der Umgebung aufgehängt. Ohne Linda hätte ich es nicht geschafft. Die ganze Zeit über befinde ich mich in einer Art Schockstarre, denke an Anna, denke an Lux. Linda hat gemeint, ich solle es unbedingt bei der Polizei melden, doch ich entscheide mich dazu, abzuwarten, entscheide mich, daran zu glauben, dass Lux zurückgebracht werden wird.

 

7. Juli

Zwei Anrufe, die sich als Fehlanzeigen herausstellen, doch nachmittags eine Mädchenstimme, leise, unsicher, an meinem Ohr:

„Ja, Kim spricht hier, es ist so, – uns – uns ist ein Hund zugelaufen, ein Spaniel, sehr zutraulich, eindeutig der Hund auf der Vermisstenanzeige.“

Eine knappe Stunde später hüpft Lux freudig winselnd an mir hoch, überglücklich drücke ich ihn an mich. „Ich bin so froh“, sage ich immer wieder. „Lux ist mir unendlich wichtig, weil…“ Ich muss schlucken, kann nicht weitersprechen, sehe erst jetzt von Lux auf zu den beiden Mädchen, die ihn mir gebracht haben.

Die Anruferin, Kim, ist auffallend dünn. Eine riesige Sonnenbrille verdeckt beinahe gänzlich ihr blasses Gesicht. Ihre Bewegungen sind fahrig, als sie stotternd erzählt, wo Lux ihnen zugelaufen ist. Es ist offensichtlich, dass sie lügt. Das kleine Mädchen, vermutlich ihre Schwester, schätze ich ungefähr acht Jahre alt. Sie sieht traurig, sieht verweint aus.

„Meine Tochter – sie hat Lux sehr ins Herz geschlossen..“

Meine Tochter? Eine sehr junge Mama also, denke ich, Kim wird dann wohl in meinem Alter sein, Mitte zwanzig.

„Oh, das tut mir leid, dass du traurig bist“, sage ich zu der Kleinen, und zu beiden: „Aber kommt bitte rein, ich mache Tee -“

„Nein, danke“, unterbricht mich Kim, fährt sich durchs strähnige Haar. Ihre Hand zittert. „Wir haben es eilig, müssen gehen.“

„Aber, der Finderlohn -“, ich greife in meine Tasche, drücke ihr einen Geldschein in die Hand. Eiskalte Finger, spüre ich, eiskalt, trotz der Hitze.

„Danke“, sagt sie beinahe tonlos. „Komm, Stella.“

Die Kleine streichelt Lux liebevoll, reißt sich dann los, geht schnell zum Tor und hinaus, Kim hinter ihr her. Ich sehe ihnen nach, als sie den Gehsteig entlang gehen. Kim will den Arm um ihre Tochter legen, doch diese weicht der Umarmung aus, geht mit gesenktem Kopf neben ihr her.

 

8. Juli

Die beiden gehen mir nicht aus dem Kopf. Nach dem Frühstück beschließe ich, Kim anzurufen, um sie und ihre Tochter einzuladen. In diesem Moment höre ich draußen freudiges Bellen, öffne das Fenster, sehe Lux wedelnd vorm Zaun stehen. Ein Mädchen, ich erkenne eindeutig Stella, greift durch die Holzstäbe und streichelt Lux. Ich rufe ihr zu:

„Stella, grüß dich! Komm doch rein, das Tor ist offen, du kannst gerne mit Lux spielen!“

Stella sieht erschrocken zu mir und läuft weg. Sie schämt sich, denke ich, wahrscheinlich hat sie Lux vorgestern vor dem Geschäft gesehen, sich in ihn verliebt, ihn einfach losgeleint und mitgenommen. Kim war bestimmt entsetzt, erst recht, nachdem sie meine Plakate entdeckt hat, hat aber ihre Tochter nicht verraten und mir eine Lügengeschichte aufgetischt.

Ich denke daran, wie sehnlich ich mir als Kind einen Hund gewünscht habe, nehme mein Handy und drücke auf Kims Nummer, die ich nach ihrem Anruf gespeichert habe.

„Ja, Kim hier.“ Ihre Stimme ist kaum vernehmbar.

„Hallo Kim, hier spricht Inka, ihr habt mir gestern Lux zurückgebracht. Gerade vorhin war Stella vor meinem Haus, sie traute sich allerdings nicht herein. Bitte sage ihr, dass sie jederzeit kommen kann, um mit Lux zu spielen.“

„Ja, ich richte es ihr aus.“ Sie spricht schleppend, langsam. „Danke, das – das ist sehr nett von dir.“

 

9. Juli

Ich sitze am Gartentisch, frühstücke und lese Zeitung, als ich Stella draußen auf dem Gehsteig auf und ab gehen sehe, während sie immer wieder verstohlen zu mir über den Zaun sieht. Endlich fasst sie sich ein Herz und kommt zur Gartentür.

„Stella, wie schön“, sage ich, lege die Zeitung weg, öffne ihr das Tor. „Schau nur, da freut sich aber jemand sehr!“

Lux kommt angesaust, er springt an ihr hoch, sie geht in die Hocke, er leckt ihr übers Gesicht. Das Mädchen quiekt, lässt sich lachend ins Gras fallen, Lux hüpft begeistert um sie herum. „Er mag dich sehr!“, sage ich.

15. Juli

Lux sitzt wartend vorm Gartentor. Minuten später ist die Freude riesig, denn Stella ist wieder da. Wie die Tage zuvor begrüßen sich Hund und Kind stürmisch. Dann kommt Stella zu mir, wir decken gemeinsam den Gartentisch. Stella trinkt Kakao, isst ein Honigbrot, wieder hat sie noch nicht gefrühstückt. Sie trägt dasselbe fleckige Kleid wie seit zwei Tagen, fällt mir auf, ihr Haar ist ungewaschen, ungekämmt. Vage Sorge um sie steigt in mir auf.

Sie kramt in ihrem Rucksack, reicht mir ein Kinderbuch über den Tisch, sagt stolz: „Schau, Inka, das hat Mama gezeichnet.“ Ich bewundere die fröhlichen, fantasievollen Zeichnungen. Kim ist also Illustratorin. Es freut mich, dass Stella mich ein wenig in ihre und Kims Welt blicken lässt, bisher hat sie kaum etwas über sich erzählt. Was ich weiß, ist, dass die beiden in einem Gemeindebau in meiner Nähe wohnen, sie gerne Schokoeis isst, dass sie ihren Papa nicht kennt, nach den Ferien in die dritte Volksschule kommt.

Nach dem Frühstück machen wir einen langen Spaziergang mit Lux, gegen Mittag sagt Stella: „Bis morgen, Inka! Bis morgen, Lux! Jetzt ist Mama bestimmt schon aufgestanden!“  Ich sehe ihrer kleinen Gestalt nach, wieder wird mir schwer ums Herz.

18. Juli

Nach den Hitzetagen heute endlich erlösender Regen. Wir machen es uns im Haus gemütlich, ich lege eine CD ein, singe laut zur Musik, Lux jault dazu, und Stella lacht.

„Warum hast du Lux eigentlich Lux getauft?“, fragt sie später, als wir schokoeisessend am Sofa sitzen. „Er ist ja ein Hund und kein Luchs.“

„Meine beste Freundin Anna hat ihm diesen Namen gegeben. Lux hat zwei Jahre lang Anna gehört, bevor er zu mir gekommen ist vor drei Monaten. Lux bedeutet Licht. Weißt du, Anna war oft sehr traurig. Sie hatte dunkle Tage, und Lux hat ihre Dunkelheit erhellt.“

„Aber warum hat sie Lux dann dir gegeben?“

„Sie ist gestorben, Stella. Ihre Eltern haben mir Lux gegeben. Sie sagten, Anna hätte das bestimmt so gewollt. Und darum war ich auch doppelt froh, dass deine Mama und du ihn mir wiedergebracht habt. Erstens weil ich Lux sehr liebe, und zweitens, weil ich das Gefühl habe, dass durch Lux auch Anna bei mir ist.“

Stella schweigt, dann fragt sie: „Inka, und wer ist jetzt deine beste Freundin?“

„Mhm, ich kenne sehr liebe Menschen, aber eine beste Freundin habe ich nicht.“

„Ich habe auch keine beste Freundin“, sagt Stella. „Obwohl.. Zoe, die wohnt im Stock unter uns, sie ist sehr nett, aber ich kann sie nicht mehr zu mir einladen, weil..“ Sie stockt. „Inka, wir beide können ja beste Freundinnen sein, du bist zwar schon alt, aber..“

„Was heißt das, ich bin alt, na warte, du.!“ Ich nehme sie in den Arm und kitzle sie, sie lacht und lacht, und ich sage: „Gerne, kleiner Stern, ich möchte sehr gerne deine beste Freundin sein.“

„Stern? Ich bin doch kein Stern.“

„Dein Name Stella bedeutet Stern.“

Stella wirkt nun nachdenklich, verabschiedet sich dann bald.

 

19. Juli

Ich soll mich aufs Sofa setzen, meinen Arm ausstrecken und die Augen schließen. Als ich sie wieder öffnen darf, ist ein buntes Perlenband um mein Handgelenk gebunden.

„Ein Freundschaftsband. Selbst gemacht“, erklärt Stella. „Sieh nur, ich trage das gleiche.“

„Wie schön, Süße! Danke! Ich werde es immer tragen.“

Gerührt umarme ich sie. Sie kuschelt sich an mich.

„Inka, ich sage dir ein Geheimnis, weil wir ja beste Freundinnen sind. Ich weiß, warum ich Stella heiße. Ein Stern macht Licht in der Nacht, und das braucht meine Mama, weil sie dunkle Tage hat, so wie Anna.“

Ich bin sprachlos.

„Schwöre mir, dass du es niemanden erzählst.“

„Ich schwöre, Stella.“

In der Nacht kann ich nicht schlafen. Ich beschließe, Kim gleich morgen früh anzurufen, um ein Treffen mit ihr zu vereinbaren. Seit dem Tag, an dem sie und Stella Lux gebracht haben, habe ich Kim nicht wiedergesehen. Sie richtete Grüße aus, aber nie begleitete sie Stella zu mir. Ich muss unbedingt mit ihr reden, denke ich. Je länger ich wach liege, desto mehr alarmierende Zeichen fallen mir ein.

 

20. Juli

Kims Handy ist ausgeschalten. Ich hinterlasse eine Nachricht, bitte sie um einen Rückruf. Lux sitzt vorm Gartentor und wartet auf Stella, die uns üblicherweise vormittags besucht. Doch Stella kommt nicht. Als sie gegen Mittag noch nicht aufgetaucht ist, rufe ich ein weiteres Mal Kim an, da Stella noch kein Handy besitzt. Es ist nach wie vor ausgeschalten.

Am Nachmittag parkt ein Auto direkt vor meinem Haus. Eine ältere Frau mit verhärmten Gesichtszügen steigt aus. Und Stella. Ich erschrecke, als ich ihr blasses, verweintes Gesicht sehe. Sie stürzt sich in meine Arme, als sie mich sieht, schluchzt herzzerreißend.

„Meine Süße, ist gut, ist ja gut“, umarme ich sie.

 „Entschuldigen Sie den unangemeldeten Besuch,“, sagt die Frau, „aber Stella wollte sich unbedingt noch von Ihnen verabschieden. Ich bin Maria, Kims Mutter.“

„Verabschieden?“, frage ich, streichle Stella, die sich an mich klammert. „Ich verstehe nicht. Bitte, erklären Sie mir.“

„Ach, es ist eine Tragödie. Meine Tochter, sie wissen ja sicher über ihren psychischen Zustand Bescheid, gestern gings ihr wieder schlecht, sie ging zum Arzt -“ Sie seufzt. „Er hat Kim in eine Klinik überwiesen, und Stella wird nun bei uns wohnen, bis..“

Da löst sich Stella von mir und rennt laut weinend ins Haus hinein, Lux hinter ihr her.

„Arme Kleine.. “ Ich bin schockiert.

„Ja, und ich sage Ihnen, ich habe immer gewusst, dass es schiefgehen würde, Kim hätte das Kind nicht bekommen dürfen, wird mit 16 Jahren schwanger, von irgendwem, das muss man sich mal vorstellen – will es alleine großziehen, ich hab ihr gleich gesagt, von uns brauchst du dir keine Hilfe erwarten – ach, schon als Kind war Kim so stur, stur und labil, immer nur zeichnen im Kopf, nie hat sie auf uns gehört, ach, ich habe ihr gesagt, es ist ein Fehler, das Kind zu bekommen, du wird das nicht schaffen, und jetzt..“

„Ich sehe jetzt nach Stella“, unterbreche ich sie wütend, keine Sekunde will ich ihr mehr zuhören.

Stella kauert mit Lux in ihrem Zelt aus Pölstern und Decken, das wir an einem Regentag gemeinsam gebaut haben. Ich krieche zu ihr, nehme sie in den Arm.

„Ich will nicht zu Oma und Opa, ich will nicht“, weint sie, „ich will bei dir bleiben, Inka. Bitte, darf ich bei dir bleiben, bis es Mama wieder gut geht?“

„Ich rede mit deiner Oma, Stella.“

„Ob ich bei dir bleiben darf?“ Sie blickt mich hoffnungsvoll an.

„Ja“, sage ich.

„Das kommt nicht in Frage“, wischt Maria sogleich unwirsch mein Angebot vom Tisch. „Ich trage Verantwortung für meine Enkeltochter.“ Sie ruft laut, „Stella, komm jetzt endlich, wir fahren!“

„Nein“, brüllt diese zurück. „Ich will hierbleiben, bei Inka und Lux.“

Nach einer halben Stunde gibt Maria auf.

„Ich kann nicht mehr. Ein unmögliches Kind, frech, ungehorsam, ganz wie Kim..“

Am liebsten würde ich diese Frau anschreien, es gelingt mir aber, halbwegs ruhig mit ihr zu vereinbaren, dass Stella vorerst übers Wochenende bei mir bleibt. Wir würden telefonieren.

 

25. Juli

„Ja, Mama, ich rufe dich morgen wieder an“, Stella kommt telefonierend ins Zimmer. „Ich habe dich auch lieb! Ja, ich gebe dir jetzt Inka. Bis morgen!“

Sie reicht mir das Handy, läuft wieder zu Lux in den Garten. Wie bei jedem Telefonat versichere ich Kim, dass es Stella gut geht, dass sie Kim natürlich vermisst, aber trotz allem ausgeglichen ist. Und Kim sagt wieder, wie unendlich dankbar, wie froh sie ist, Stella bei mir zu wissen.

8. August

Ich sitze im Vorzimmer der Kinderpsychologin und warte auf Stella. Bevor Stella zu ihr hineinging, sprach ich kurz allein mit der Psychologin, wie beiläufig fragte sie:

„Warum tun Sie das alles eigentlich für sie? Sie kennen Stella und ihre Mutter doch kaum.“

Die Frage trifft mich, geht mir nicht aus dem Kopf. Handle ich aus egoistischen Gründen? Will ich unbewusst die Leere füllen, die Annas Tod in mir hinterlassen hat? Ich muss an den furchtbaren Tag denken, an dem Annas Mutter anrief, mir weinend sagte, dass Anna tot sei, dass sie mit überhöhtem Tempo gegen einen Baum gefahren ist. Wir hatten verloren, Annas Depressionen waren stärker als all unsere Bemühungen um sie.

Stella kommt heraus, all die schweren Gedanken lösen sich auf, als sie mich anlächelt, sich an mich schmiegt. Wie sehr dieses Kind mir ans Herz gewachsen ist.

10. August

Kim hat mich vorgewarnt. Als ich ihre Wohnung betrete, bin ich trotzdem erschüttert von der Unordnung, dem Schmutz. Der Gedanke, dass Stella in diesem Mief leben musste, tut weh. Ich öffne alle Fenster, draußen regnet es stark.

Alles hier lässt mich an Anna denken, die in ihren depressiven Phasen zu keinem Handgriff fähig gewesen ist, alles verkommen, sich nicht helfen ließ. Ich gehe auf den kleinen Balkon, sehe auf verdorrte Pflanzen und leere Bierflaschen, atme tief durch. Der Regen hört langsam auf. Am dunklen Himmel bildet sich ein Regenbogen, unwirklich schön.

Dann, als ich die Kleidung und die Bücher für Kim zusammensuche, um die sie mich gebeten hat, finde ich, in einem Eck gestapelt, dutzende Zeichnungen und Acrylbilder von Kim. Allesamt sind sie energievoll, eigenwillig, farbenprächtig, ich sehe auf zarte Abbildungen von Stella, in jeder davon ist für mich deutlich erkennbar, wie sehr Kim ihre Tochter liebt.

11. August

Ich bin bei Kim in der Klinik. Stella ist mit Lux bei Linda, sie möchte ihre Mama nicht in der Klinik besuchen, sondern erst wieder gesund zuhause sehen. Lange sprechen wir über Stella.

„Meine Kleine“, flüstert Kim, „was habe ich ihr nur zugemutet letzte Zeit.“

Und dann erzählt sie mir stockend, dass bis vor ein paar Monaten all die Jahre über alles sehr gut gegangen ist, es sei zwar anstrengend gewesen, allein mit einem kleinen Kind, nebenbei die Ausbildung, später die Arbeit, doch immer zu schaffen. Doch Ende März ging ihr Verlag in Konkurs, sie verlor ihre Arbeit, beinahe zeitgleich ging eine anfangs vielversprechende Beziehung in Brüche. Dies alles zog ihr den Boden unter den Füßen weg. Von heute auf morgen war ihr alles, war ihr jeder Handgriff zu viel, sie fühlte sich erschöpft, ausgelaugt, konnte nachts nicht schlafen, morgens nicht aufstehen, konnte sich nicht mehr ausreichend um Stella kümmern, griff zu Tabletten, zu Alkohol, etwas, was sie zuvor nie getan hatte. Sie schämte sich, erzählte niemanden davon, kapselte sich und damit auch Stella ab, jeden Tag entglitt ihr alles ein wenig mehr…

Während Kim erzählt, muss ich an die unschöne Begegnung mit ihrer Mutter denken, an deren harte Worte über Kim, denke, wie sich wohl alles entwickelt hätte, wenn Kim Unterstützung, Liebe, Ermutigung bekommen hätte, denke, welches Glück ich im Gegensatz mit meiner Familie habe.

„Inka“, sagt Kim leise, „ich war betrunken an jenem Tag, betrunken und verzweifelt deswegen, habe an Stella gedacht, wie ich alles wiedergutmachen, ihr eine Freude machen kann – da habe ich Lux vor dem Geschäft gesehen, es war wie ein Blackout – ich habe ihn losgeleint und einfach mitgenommen. Es ist unverzeihlich.“

27. August

Im Stiegenhaus begegnen wir zwei Kindern. Es sind Zoe, von der Stella mir erzählt hat, und deren Bruder. Die beiden streicheln Lux, der Kinder liebt und freudig wedelt. Ich schlage vor, dass sie im sicheren Innenhof eine Runde mit ihm spazieren gehen, während ich in der Wohnung werke. Vom Balkon aus sehe ich, wie sie mit Lux spielen. Stella blickt zu mir herauf, winkt lachend. Wie schön es ist, sie unbeschwert mit anderen Kindern zu sehen.

28. August

Ungläubig sieht sich Kim in ihrer sauberen, ordentlichen Wohnung um.

„Ist das wirklich unsere Wohnung? Waren Heinzelmännchen bei uns, Stella?“ fragt sie Stella, die voller Freude auf dem Sofa hüpft.

„Ja, ja“, ruft Stella übermütig. „Wir haben sie gesehen, stimmts, Inka? Viele kleine Heinzelmännchen, die haben alles geputzt.“

Sie springt vom Sofa, zieht Kim auf den Balkon, zeigt ihr die blühenden Pflanzen, die wir eingesetzt haben. Kim ist voll der Bewunderung und des Lobes.

Stella entdeckt Zoe, die mit anderen Kindern unten auf dem Spielplatz ist, und die ihr zuruft: „Komm runter zu uns, Stella! Ist Lux bei dir?“

 Wenig später sehen wir Stella mit Lux unten, lachend, umringt von den Kindern.

Kim strahlt. „Stella ist wie ausgewechselt, offen, fröhlich. Du hast sie aufgefangen – und an mich geglaubt, mir Mut zugesprochen. Es ist unglaublich, was ein einzelner Mensch alles bewirken kann! Ich weiß nicht, wie ich dir für alles danken kann, Inka.“

„Aber ich weiß es“, umarme ich sie, „indem du so weiter machst, gut auf dich und Stella achtest, dich nicht unterkriegen lässt. Alles andere wird sich von allein einstellen, du wirst sehen.“

 

31. August

Heute würde Anna ihren 25. Geburtstag feiern. Ich bin traurig, vermisse sie schmerzlich, lange telefoniere ich mit einem gemeinsamen Freund und mit ihrer Mutter. Am Nachmittag werden Kim, Stella und Zoe zu mir kommen, auch Linda habe ich eingeladen. Doch sogar der Gedanke an ihren Besuch stimmt mich wehmütig. Der Sommer neigt sich dem Ende zu. Für Stella beginnt übermorgen wieder die Schule, für mich meine neue Arbeit. Natürlich würden wir uns weiterhin oft sehen, aber unsere intensive gemeinsame Zeit ist wohl vorüber.

Und dann sind sie alle da, bringen Eis und Blumen und Fröhlichkeit mit, wir unterhalten uns, essen Eis, Stella und Zoe spielen ausgelassen mit Lux. Kim erzählt von einem bekannten Autor, mit dem sie sich getroffen hat, und dessen Buch sie illustrieren wird. Immer wieder muss ich sie ansehen, sie strahlt, scheint ein paar Kilo zugenommen zu haben, trägt einen neuen Haarschnitt, wirkt frisch und ausgeglichen.

Es ist ein schönes, vertrautes Zusammensein, doch spätabends, als sie gegangen sind, kommt meine Traurigkeit zurück. Ich streichle Lux, denke an Anna. Als ich ins Haus gehen will, sehe ich auf dem Gartentisch ein Paket liegen. Auf einem Kärtchen steht schlicht: „Für Inka.“

Vorsichtig löse ich das Geschenkpapier, halte ein Bild in meinen Händen. In strahlenden Farben hat Kim mein Haus und den Garten gemalt, mich mit Lux im Gras sitzend. Am Horizont leuchtet wie beschützend ein Regenbogen. Ich weiß, dass er symbolisch für Anna gemeint ist. Ich betrachte Kims kraftvolle und zugleich sensible Darstellung, all die liebevollen Details, den Schwung, die Farben des Regenbogens, und spüre, wie sich meine Traurigkeit auflöst, und es stattdessen leicht und licht in mir wird.