© by Michaela Lipp

Turnier

Das Turnier der Ritter ist im vollen Gange. Ich sehe immer wieder zu, wie die Recken auf ihren Pferden aufeinander zureiten und sich mit Stangen versuchen, gegenseitig herunter zu werfen. Sie sind schwer gepanzert, und man erkennt diese Männer kaum.

Mein Held ist Isidor. Er trägt mein Tuch bei sich. Ich habe mir von den Näherinnen alle Taschentücher in grün färben lassen. Eine schöne Farbe. Grün wie meine Augen.

Isidor ist auch schön. Er hat blaue Augen und dunkle Haare. Er ist groß und stark. Von ihm würde ich mich gerne küssen lassen. Und auch anderes, von dem die Mägde immer schwärmen.

Bisher hat das noch nie jemand gemacht. Mein Vater sagt immer: „Mädchen, du wartest noch 2 Jahre, dann bist du 13, dann suchen wir dir einen Mann.“ Nun ich bin eben noch zu jung.

Aber schwärmen tue ich schon für Isidor. Meine Mutter ist schon lange tot. Sie ist an der Seitenkrankheit gestorben. Aber Papa hat nochmal geheiratet, eine schöne Frau. Hermine heißt sie. Sie ist aber keine so gute Mutter für mich, finde ich. Sie trägt schöne Kleider, immer blaue Tücher. Darum bin ich auf die Idee mit der grünen Farbe gekommen. Und sie riecht nach Parfum. Auf ihren Taschentüchern ist getropftes Öl von Rosen.

Mein Vater ruft nach mir: „Hera, Liebes, komm her, ich zeige dir etwas, bald ist der Endkampf!“

Eigentlich mag ich Kämpfe nicht. Aber es ist bei diesen Turnieren etwas Anderes. Es fließt selten Blut, und noch weniger oft sterben die Menschen dabei. Und es gibt etwas Lustiges: Die Ritter werden an Ketten gehangen und mit Wasser durchgespült, wenn sie mal müssen. Sie sind in ihre Rüstungen geschmiedet und bleiben den ganzen Tag darinnen.

Ich finde das spannender, wenn ich von dem Turm aus dabei zusehe, als das Turnier selbst. Wenn man auf Befehl Wasser lassen soll oder gar Anderes. Da kann der Knecht auch schon einmal seinen Herrn anfeuern müssen.

Aber von der Kemenate aus sehe ich das ja nicht. Nun komme ich meines Vaters Ruf nach, setze mich neben ihm.

Hermine sitzt auf der anderen Seite. Mein Bruder ist noch zu klein, um am Turnier teilzunehmen. Er spielt zu Füßen Hermines mit seinen Strohpferden, die ich ihm gebastelt habe. Warum er nur so dunkle Locken hat? Papa und ich sind doch hellhaarig- Das ist schon komisch.

Nun reitet Isidor an. Ich sehe ihm nach. Ob Papa ihn für mich ausgesucht hat? So als König kann er das schon. Isidor ist ein sehr starker Mann und schon lange an Papas Hof.

Ja, Isidor wirft seinen Gegner mit Leichtigkeit vom Pferd. Wie schön er aussieht, so als Sieger. Dann holt er aus seiner Rüstung mein Tuch heraus.

Sehe ich da ein blaues Taschentuch? Er verbirgt es hastig in der Hand. Hermine hält sich die Hand vor den Mund und sieht Papa an.

Der ist jetzt ziemlich ärgerlich. Ich sehe es sofort an seinen Mundwinkeln. Er steht auf und schickt mich mit meinen kleinen Bruder weg. Warum darf ich nicht bei der Siegerehrung dabei sein? Meinen Helden bewundern? Aber wenn Papa etwas befiehlt … Ich folge und ziehe mich zurück.

Beim nächsten Turnier sitze ich alleine bei Papa.

Isidor und Hermine sind weg.

Ein anderer Ritter hat diesmal mein grünes Taschentuch in seiner Rüstung.

Bitte gewinne du für mich! Papa braucht einen Nachfolger!