© by Susanne Wiedergut

Der Kunstflug

„Der Herr Graf ist vorgefahren“, sagt das Stubenmädchen und die Gräfin ist schon am Fenster. Im Schlosshof steht der gräflich bewappnete Traktor samt Anhänger und der Anhänger transportiert leintüchig Verhülltes. Die Gräfin sieht das und schüttelt den Kopf. Er hat es schon wieder getan. Sie hat ihn ja lieb, ihren Grafen, trägt ihn nunmehr schon seit 25 Jahren im Herzen, aber seine Sammelleidenschaft lässt bei ihr die grauen Haare nur so sprießen.

Der Graf winkt herauf, stellt den Motor ab und springt auf den Anhänger. Letztes Mal ist er auch gesprungen, der Graf und zwischen Traktor und Anhänger aufgeschlagen. Der Herr Doktor musste kommen, die Feuerwehr musste kommen und der Graf lag eine Woche im Krankenhaus. Aber diesmal klappt es einwandfrei, er steht auf der Ladefläche und zieht das Leintuch vom ersten Bild.

„Nicht schon wieder,“ ruft die Gräfin aus dem Fenster.

„Ja, sehr schön“, ruft der Graf zurück. Der Graf hat es mit den Ohren. Oder hat er es gar nicht mit den Ohren? Man weiß es nicht so genau. Es ist auf alle Fälle groß und bunt, das Gemälde. Der Graf faltet das Leintuch zusammen und schaut zur Gräfin hinauf:

„Ruf den Verwalter, meine Liebe.“

Die Gräfin seufzt, schickt dann aber doch das Stubenmädchen zum Zimmermädchen und dieses läuft zum Küchenmädchen, das wiederum den Küchenjungen zum Stallburschen schickt, denn der Verwalter soll kommen. Die Gräfin bekommt Kopfweh und der Graf enthüllt das zweite Gemälde. Der Schmerz im gräflichen Kopf sticht und pocht, während der Graf zärtlich über den goldenen Rahmen streicht.

„Das ist ein Kunstwerk, eine Schönheit, ein Meisterstück!“

Mittlerweile steht der Verwalter vor dem Anhänger, bekommt das erste Bild ausgehändigt und dann das zweite. Ach, wenn er doch eines fallen lassen würde, denkt sich die Gräfin. Um Himmels Willen, wenn er eines fallen lässt, denkt sich der Graf. Aber nichts dergleichen passiert. Der Verwalter hält die Bilder fest. Er ist groß wie ein Bär und stark wie ein Elefant, der Verwalter, oder umgekehrt? Egal, denn er trägt nun die Gemälde die große Steintreppe hinauf. Am oberen Ende der Treppe wartet die Gräfin auf die Bilderkarawane.

„Wo sollen die denn hin?“

„In die Galerie“, und der Graf hüpft auf der Treppe herum wie ein Küchenjunge unterm reich geschmückten Christbaum am Heiligen Abend.

„Die Galerie ist voll, mein Lieber“, der gräfliche Kopfschmerz lässt langsam nach. Dafür zerbricht sich nun der Graf den seinigen und hält dagegen.

„Die Galerie ist nicht voll.“

„Die Galerie ist voll“.

„Nicht voll.“

„Voll.“

Die Karawane hat mittlerweile die Treppe hinter sich gelassen und schlängelt sich durch die Schlossgänge in die Galerie.

Da stehen sie nun, der Graf, die Gräfin, der Verwalter, das Stubenmädchen und der Küchenjunge. Wer? Der Küchenjunge. Warum der Küchenjunge? Warum nicht? Dann halt kein Küchenjunge, aber nun zurück zu den Bildern. Der Blick des Grafen geht über die Gemälde in der Galerie, eines nach dem anderen wird in Augenschein genommen. Ein Lächeln da, ein Zwinkern dort, ein Seufzer da und schließlich die pure Verzweiflung, das blanke Entsetzen und er schaut seine Gräfin an.

„Habe ich es dir nicht gesagt?“

Der Graf ist nun klein, ganz klein, hat die Hände in den Hosentaschen vergraben und steht da, wie ein Küchenjunge vor dem Hl. Nikolo. Also doch, ich wusste es, der Küchenjunge. Nein, nicht der Küchenjunge, der Graf ist klein wie ein Küchenjunge und ganz verloren. Die Gräfin schaut ihn an. Sie hat ein großes, ein liebendes Herz und drückt den Grafen ganz fest an den Busen. Ihre Stimme ist sanft und zärtlich:

„Habe ich es dir nicht gesagt? Die Galerie ist voll.“

„Ja, schon, aber.“

„Kein aber, die Galerie ist voll.“

„Kann man da gar nichts machen?“

Der Graf schaut auf und verliert sich in ihren tiefblauen Augen. Der Gräfin bricht fast das Herz. Im Hintergrund stehen der Verwalter mit den Bildern und das Stubenmädchen mit dem Riechfläschchen. Die Gräfin legt gedankenvoll den Kopf zur Seite und ein Lächeln huscht über ihr Gesicht.

„Man kann.“

Der Graf sieht seine Gräfin an und Hoffnung am Horizont.

„Man kann?“

„Ja, mein Lieber.“

Die Gräfin nimmt ihren verdutzen Grafen an der Hand und die beide schreiten die Gemälde ab. Am Ende der Galerie hängen zwei Portraits. Vor diesen Bildern und dem großen Fenster bleiben sie stehen.

„So und jetzt, mein Lieber, mach das Fenster auf.“

Der Graf öffnet die Fensterflügel.

„Denn jetzt fliegen sie raus, die Eugénie und ihr Napoleon, III.“