© by Wilhelm Maria Lipp

Der Muh-Tiger

 Auf und ab in stetem Wechsel streicht er über die satten Wiesen der Hochalm. Er passt eigentlich gar nicht so toll zu den gescheckten Kühen, er hat Streifen. Seine Beine sind aber nicht so lang wie beim Zebra, das auch Streifen hätte. Aber sie sind besonders stark im Absprung. Wie leicht könnte er die elektrische Einfriedung überspringen, aber das hat ihm niemand gezeigt.

Seit er als Baby auf die Alm kam, lebt er zwischen den Kühen. Eine Zeit lang wurde er mit ihrem köstlichen weißen Saft ernährt, den die Sennerin aus dem Euter der Kühe massierte. Später bekam er Trockenfutter. Obwohl ihn seine Pflegemütter, die Kühe, mit auf die Weide nahmen, hat er kaum das saftige Gras gefressen. Mit einem Schnurren bedankt er sich täglich bei den Sennern für seine Nahrung.

Danach streift er, wie eben, zwischen den Kühen über die Hochalm. Das Fressen der Pflegemütter passte ihm also nicht, aber er versuchte, wie sie Laut zu geben.

Täglich übte er, um ein gewaltiges „Muh!“ aus seiner Kehle klingen zu lassen. Doch meistens umsonst. Seine Pflegemütter gewöhnten sich bald an diese Versuche und ließen sich davon nicht mehr stören. Aber Wanderer, welche die Alm überqueren wollten, nahmen stets Reißaus, wenn sie ihn sahen oder gar hörten.

Nur die Pflegemütter und die Senner wussten, dass in dem gewaltigen Tier, und ein ausgewachsener Tiger ist halt gewaltig, also, dass in dem gewaltigen Tier ein Schmusekätzchen steckt, dass so gerne muhen können möchte, so dass die Bezeichnung „Muh-Tiger“ endlich zutrifft.

Aber, ob er es jemals schaffen wird, kann hier doch nicht beschrieben werden, denn der Autor konnte nicht jahrelang auf der Hochalm bleiben.

Doch vom „Muh-Tiger“ kann er erzählen, so wie er ihn kennen, zuerst fürchten und dann lieben gelernt hat.

Wer weiß, wieviel wir selber von so einem Muh-Tiger in uns tragen.

Wollen wir nicht auch manchmal, dass wir mit jemand Bestimmten reden können, und es gelingt uns nicht, dass wir verstanden werden, wie sehr wir uns auch bemühen?

Achten wir also weniger auf den Muh-Tiger der Hochalm, lernen wir unseren eigenen Muh-Tiger kennen und helfen wir ihm, dass er die richtige Sprache spricht und endlich verstanden wird.