by Wilhelm Maria Lipp

 

Spuren im Schnee

Die letzten Tage waren noch einmal so richtig fordernd, beinahe überfordernd. Es schien, dass jeder nur mit mir arbeiten wollte, mich brauchte. Eine Zeit lang war es ja ein angenehmes Gefühl, so gebraucht zu werden, aber mit jedem Tag stieg die innere Anspannung. Die Arbeit verfolgte mich nach Hause. Beim Einschlafen war sie in meinem Kopf, auch beim Aufwachen waren meine ersten Gedanken bei der Arbeit. Nun aber gab es den lang ersehnten Betriebsurlaub, zwei Wochen Ferien!

 

Mit meinen beiden Kolleginnen ging es zum Schifahren. Frauenurlaub. Wir drei waren eingefleischte Junggesellinnen und wollten es auch bleiben. Uns stand die Welt offen. Wir lachten und sangen im Auto während der Fahrt. Mit unserer Fantasie steckten wir einander immer wieder zu übermütigem Lustig sein an. Wir wollten Spaß und machten Spaß.

Wir lachten über Autonummern oder Straßenschilder, über Plakate oder Firmennamen. So kamen wir bei einem Schild vorbei: „Steinmetz, Gutes aus Fleisch“. Es war ein Metzger mit dem Namen Steinmetz. In einem anderen Ort hieß der Metzger „Grausam“. Auch das Firmenschild eines Bestattungsunternehmens reizte uns zum Lachen. Der Bestatter hieß „Alois Glaubauf“.

 

Endlich kamen wir am Urlaubsort an. Zu unserem Hotel mussten wir durch den ganzen Ort fahren. Wir kamen an einem Kaffeehaus vorbei. Dort wurden die Kunden mit den besten Muffins weit und breit angelockt. Auf großen schwarzen Schildern stand in weißer Kreideschrift: „Die besten Muffins weit und breit! Zwischen 12 und 2 – Muffins mal zwei!“ Wieder war das Anlass für einen Lachanfall. Wir wussten, um diese Zeit würden wir auf der Schipiste sein, das Angebot war sicher für Pensionisten aus dem Altersheim, die nicht Schifahren wollten oder es gar nicht konnten.

 

Im Hotel hatten wir ein Zimmer gebucht. Ein Zweibettzimmermit einem Zusatzbett. Wir wollten auch in der Nacht lustig sein und quasseln bis zum Einschlafen. Eigentlich brauchten wir das Zusatzbett nicht, es war genug Platz im Doppelbett für uns drei. Und sollte wirklich eine von uns mal das Zimmer für eine romantische Stunde alleine brauchen, würden die anderen eben länger an der Bar bleiben oder spazieren gehen. So war es geplant. Schließlich waren wir jung, unternehmenslustig und offen für Spaß. Der erste Abend endete in der Hotelbar beim Tanz. Gerne ließen wir uns von gesetzten Männern zum einen oder anderen Cocktail einladen. Mehr ließen wir allerdings am ersten Abend nicht zu. Wir wollten morgen schon zeitig auf die Piste. So geschah es auch. Am nächsten Tag genossen wir unser Frühstücksbüffet. Während der letzten Arbeitstage war ich kaum zu einem Frühstück gekommen. Heute verwöhnte ich mich mit Fruchtsaft zum Kaffee, mit gebratenem Speck und Rührei, mit Käse, Butter und Gebäck. Herrlich! Danach rein in die Wintersportkleidung und ab auf die Piste.

 

Die Liftkarten hatten wir ebenfalls vorab gebucht, sodass wir uns damit nicht aufhalten mussten. Der klare, kalte und doch sonnige Tag versprach ein wunderschöner erster Schitag zu werden. Am Dreiersessellift ging es den Berg hoch. Danach stand uns mit Schleppliften die gesamte Schischaukel zur Verfügung. Wir genossen den Fahrtwind bei den Abfahrten, wurden von Fahrt zu Fahrt immer mutiger und wählten immer schwierigere Pisten aus.

 

Plötzlich spürte ich in meinem Bauch ein komisches, drängendes, unaufhaltsames Rühren. War das Frühstück doch zu fett, zu fruchtig oder zu süß gewesen? Ich schaute mich um nach Rettung. Aber auf dieser Piste gab es weit und breit keine Hütte. Ich wusste, ich musste die Abfahrt ganz hinunter fahren und darauf hoffen, dass dort bei der Talstation des Lifts Sanitäre Anlagen wären. Ich konnte mich nicht erinnern, welche gesehen zu haben, als wir hochfuhren. – Das Gefühl in mir wurde jedoch immer drängender, immer fordernder. Ich merkte, ich würde nicht mehr bis zur Talstation fahren können und schaute und suchte. Am linken Pistenrand gab es ein paar niedrige Nadelbäumchen. Es half nichts, ich musste dorthin und mich zwischen diesen Bäumchen niederhocken.

Meinen Freundinnen sagte ich nur, ich würde eine kurze Pause machen, wir sehen uns unten. Danach schwang ich schon ab und suchte mir zwischen den Bäumchen eine halbwegs uneinsichtige Stelle. Es war so peinlich, aber es musste sein.

Ich blieb stehen, konnte mir allerdings nicht mehr dir Zeit zum Abschnallen der Schier nehmen. Rasch öffnete ich die Latzhose. Wir glücklich war ich nun, dass ich heute Morgen nicht den Schi Overall gewählt hatte, sondern diese Latzhose. Ich konnte die Träger links und rechts über die Arme runterstreifen, zog mit der Schi Hose zugleich die warme Strumpfhose und den Slip hinunter, hockte mich nieder und schon ging es los. Montezumas Rache! Fürchterlich! Der Bauch grimmte, Schmerzen strahlten bis ins Gehirn. Was hatte ich Unrechtes gegessen oder am Vortag getrunken?

Plötzlich merkte ich, dass ich meine Schier nicht mehr halten konnte. Sie machten sich selbständig. Aber ich stand noch darauf, das heißt, ich hockte darüber. Langsam aber unaufhaltsam fuhren sie los, quer zur Piste den Hang abwärts. Fürchterlich! Meine Stöcke waren oben geblieben auch meine Haube und die Handschuhe. Ich konnte nicht bremsen. Scham! Furcht! Ich breitete im Rutschen meine Arme nach links und rechts aus und versuchte so zu bremsen. Unmöglich. Ich durfte nicht daran denken, was die anderen Menschen auf der Piste jetzt zu sehen bekamen. Die Tränen schossen mir vor Elend und Scham beinahe senkrecht aus den Augen. Da, eine Bodenwelle. Ich wurde ausgehoben und stürzte ziemlich verdreht in die nächste Mulde. Endstation. Es wurde dunkel um mich.

Als ich wieder zu mir kam, standen Leute um mich herum. Jemand hatte sich meiner erbarmt und meine Blöße bedeckt. Ob ich aufstehen konnte, wurde ich gefragt. Es ging nicht. Ich konnte mich kaum bewegen, hatte arge Schmerzen im rechten Bein und ich roch äußerst unangenehm. Ich konnte mich nicht bewegen und ich wollte es auch nicht. Es war so peinlich.

Es dauerte nicht lange, dann wurde ich von zwei freundlichen Männern der Bergrettung in einen Akja gehoben. Da sah ich zum ersten Mal den Hang hinauf, den ich runtergeschlittert war. Welche Schande, welche Scham überkam mich, als ich den braungelben Streifen sah, den ich auf der Piste hinterlassen hatte. Nun allerdings ging es in Windeseile den Hang hinab bis zu einem Sanitätswagen und mit diesem ins nächste Krankenhaus. Dort wurde ich gesäubert und untersucht. Sehnenzerrung war die Diagnose. Gips. Eigentlich müsste man sagen Kunststoff, denn der Stützverband war aus rosa Kunststoff. Weil ich ein Mädchen bin, meinte der Gipser, nahm er den rosa Verband.

Ich durfte am selben Tag wieder ins Hotel. Ich sollte mich bewegen, ausgehen mit Krücken, an der frischen Luft sein. Schifahren allerdings würde ich die nächsten Tage nicht mehr können.

Meine Freundinnen hatten lange gewartet. Sie hatten auch die Bergrettung gesehen, aber sich nicht gedacht, dass ich es sein könnte, die da den Berg hinunter gebracht wurde. Wie sehr hatten sie Mitleid mit mir. Sie bedauerten mich, dass ich nun nicht mehr zum Schifahren konnte. Wie es allerdings genau zum Unfall gekommen war, erzählte ich ihnen nicht.

Und das war gut so. Wie sehr lachten wir, als wir von fremden Schifahrern meinen Unfall geschildert bekamen. Gottseidank wusste niemand, dass ich der Unglücksvogel gewesen war. Ich schämte mich, kaum dass ich daran dachte, jemand könnte mich erkannt haben.

Die Nächte musste ich ab nun wegen dem Gips Fuß im Zusatzbett verbringen, ich wollte doch niemand mit meinem Verband wehtun.

Die nächsten Tage fuhren meine beiden Freundinnen alleine auf den Berg. Nur beim Frühstück und am Abend waren wir zusammen. Ich hatte jetzt viel Zeit mit mir alleine. Da erinnerte ich mich an das „Die besten Muffins weit und breit! Zwischen 12 und 2 – Muffins mal zwei!“ So humpelte ich in der besagten Zeit in dieses Kaffeehaus, setzte mich an einen Tisch, bestellte Kaffee, manchmal Tee und dazu natürlich einen Muffin. Ich bekam, wie angekündigt, immer zwei Muffins. Und die waren wirklich herrlich. Mal schwarz/weiß, mal mit Frucht, mal glasiert, mal wie ein Biskuit. Ich genoss sie, las eine Tageszeitung oder schaute fern. Auch das Fernsehgerät war ein Service in diesem Lokal. Wenn ich mal die anderen Gäste im Lokal betrachtete, fiel mir auf, dass wir uns ganz schön geirrt hatten, als wir glaubten, nur Pensionisten würden um diese Zeit hier sein. Die Tische waren immer voll besetzt. Es war ein stetes Kommen und Gehen von Menschen aller Altersgruppen.

Am dritten Tag fiel mir auf, dass der junge Mann am Nebentisch auch schon den dritten Tag da war. Er kam manchmal kurz nach mir, manchmal war er schon da, als ich eintrat. Er hatte wie ich „Kunststoff“ am Fuß und blieb, wie ich, etwa zwei Stunden am frühen Nachmittag dort.

Blickkontakt hatten wir am dritten Tag. Am vierten Tag, als er wieder nach mir hereinkam, waren die Tische alle besetzt. So fragte er mich, ob er sich zu mir setzen dürfe. „Warum nicht?“, antwortete ich und machte einen Teil des Tischchens von meiner Tageszeitung frei, damit er auch seine Bestellung unterbringen konnte. Bald war die Zeitung nicht mehr wichtig, auch das Fernsehen wurde uninteressant. Wir beide kamen ins Gespräch. Beruf, Hotel, Familienverhältnisse, Freunde. Nur bei der Ursache für unsere Unfälle waren wir beide nicht gesprächsbereit.

Die Muffins allerdings hatten es uns beiden angetan. Auch er hatte das Schild gelesen und war wegen der Muffins in dieses Lokal gegangen. Und auch jetzt noch, wo wir den zweiten Muffin dem anderen geben hätten können, aßen wir jeder selber unser zweites Stück des wunderbaren Gebäcks. Bald waren wir beim kameradschaftlichen Du angelangt. Bald verabredeten wir uns auch zur gemeinsamen Abendgestaltung. Auch er war mit Freunden unterwegs, und auch er hatte einen Schiunfall.

 

Meinen Freundinnen gefiel meine Eroberung, wie sie sagten, ebenfalls, aber er hatte nur Augen für mich. In der zweiten Woche war es dann so weit. Wieder hatten wir viel gelacht, ein bisschen getrunken, uns viel erzählt, ein wenig getanzt, so gut es mit unseren Gipsbeinen eben ging. Gegen Ende eines langsamen Tanzes schmiegte ich mich ein wenig fester an ihn. Er verstand, legte seine Arme fest um mich und küsste mich. Was für eine Explosion. Die Welt ging um mich unter, wurde wieder strahlend hell durch ihn, als ob die Sonne neben mir aufginge. Seine Wärme umhüllte mich, drang in mich, ließ mein Herz bis zum Halse schlagen. Ich zerfloss vor Liebe.

Nach der ersten gemeinsamen Nacht in seinem Zimmer, wollte er doch wissen, welchen Umständen wir unsere Bekanntschaft zu verdanken hätten. Ich schämte mich so, wollte es nicht erzählen. Meine Erklärung waren die magischen Muffins, die mich bei der Ankunft schon so angezogen hatten, dass ich anscheinend diesen Schiunfall erleben musste, um zu den Muffins zu kommen.

Er erzählte mir von seinem Unfall. Er sei am ersten Tag den Berg hochgefahren, habe die klare Aussicht genossen, auch die Luft, die um seinen Kopf strich. Da kam plötzlich ein Schifahrer aus einem kleinen Waldstück in tiefer Hocke herausgefahren und färbte die Piste mit einem braungelben Streifen hinter sich. Er war von diesem Anblick dermaßen fasziniert und abgelenkt, dass er selber eine Mulde übersah, stürzte und von Sanitätern versorgt werden musste. Auch er hatte eine Zerrung, allerdings hatte er einen blauen Kunststoffverband bekommen, schließlich passte das Rosa nicht so gut zu ihm.

Nun schämte ich mich noch mehr, wollte nicht von meinem Unfall erzählen. Aber er ließ nicht locker, hielt mich in seinen Armen und meinte, er liebe mich, ich könne ihm doch erzählen wie ich zu meiner Zerrung gekommen sei. – Da gestand ich ihm, dass ich die Schifahrerin war, die ihn zu seinem Unfall verholfen hatte.

Er verstand es zuerst nicht, dann aber lachte er befreit. Wir lachten beide und lachen heute noch, wenn wir zusammen sitzen und uns an unsere erste Begegnung erinnern. Aber außer uns hat nie jemand erfahren, wie unser erstes Treffen passierte. Weder unsere Freunde noch unsere Kinder wissen es. Es soll unser Geheimnis bleiben.

Doch alle wissen von den magischen Muffins aus dem Kaffee, wo wir das erste Mal miteinander geredet hatten. Noch heute sind Muffins ein fester Bestandteil jeder Familienfeier so wie nächste Woche, wenn wir den zehnten Hochzeitstag haben.

 

Aus „Hirngespinste“ (ISBN: 9783902928245) Juni 2023