© by Wilhelm Maria Lipp

Lesend sitz´ ich in dem Raum,
sehr spannend ist das Buch.
Plötzlich kommt, fast wie im Traum
makaberer Besuch. 

Ein schwarzer Mann steht da vor mir
und spricht eiskalt und knapp,
dabei weist er zu meiner Tür,
er hole mich jetzt ab!

 „Mein Herr, was kommst du jetzt denn schon?
Ich bin noch nicht bereit,
ich wollte noch so Manches tun
und brauch´ noch etwas Zeit! 

Ich lese grade diesen Band
auf Seite hundertzehn,
doch sagt mir noch nicht mein Verstand,
wie es wird weitergeh´n. 

Wie soll zufrieden ich mit dir
den letzten Gang nun tun?
Die ungestillte Wißbegier
läßt ewig mich nicht ruh´n! 

So laß´ es mich zu Ende lesen,
das dauert doch nicht lang,
dann mag mein Fleisch getrost verwesen,
der Seele wird nicht bang.“ 

Der Tod gewährt mir diese Frist,
kehrt mir den Rücken zu.
Ich merk, wie kurz das Leben ist
und schließ das Buch im Nu. 

Ich sperr´ es ein in einen Schrank,
denk´ nicht mehr an den Schluss.
Doch bin ich einmal alt und krank,
dann les´ ich´s mit Genuss.