© by Wine van Velzen

Alles ging mit einer Urgewalt den Bach hinunter. Die Ehe zerrüttet, nicht mehr zu kitten. Träume ausgeträumt. Aufgewacht und in die kalte Realität gefallen. Konnte es noch schlimmer kommen, fragte sich Diana und schnäuzte sich zum wiederholten Male die bereits wunde Nase. Die Tränen wollten nicht versiegen, der Schmerz drückte ihr das Herz zu, ließ sie nach Atem ringen.

Am Nachmittag im Freibad haben ihre Freundinnen über ihre Männer gelästert, sich über deren Unaufmerksamkeit ihnen gegenüber beschwert. Diana hörte zu und schüttelte immer wieder mit dem Kopf. Was gab es doch für acht- und gedankenlose Männer, die ihre Frauen nicht zu schätzen wussten, überlegte sie traurig.

»Ich kann mich nicht beklagen«, erklärte Diana ihren sprachlosen Freundinnen. »Peter ist ein liebevoller, aufmerksamer Mann, ich würde ihn sofort wieder heiraten

Ob die anderen neidisch waren oder ihr schlichtweg nicht glaubten, sei dahingestellt. Auch wusste sie später nicht, welche von ihnen schadenfroh lachte.

Gutgelaunt und zufrieden mit dem Tag wartete Diana auf Peter, der wieder Überstunden machte, wie so oft in den letzten Wochen. Die Kinder waren in ihren Zimmern, hörten Musik, lasen oder telefonierten mit Freunden, als ihr Ehemann eine Stunde später die Haustür aufschloss und ins Haus kam. Diana sah ihn an und wusste, nach vierundzwanzig Ehejahren nicht verwunderlich, dass Peter etwas bedrückte. Sie nahm sich vor, besonders nett zu ihm zu sein, und umarmte ihn. Er schob ihre Arme weg, sah sie nicht an und murmelte:

»Ich muss mit dir sprechen, Diana. Es gibt etwas, dass du erfahren sollst.«

Die weibliche Intuition schnappte ein, und Diana hatte ein ungutes Gefühl. Sie folgte ihrem Mann ins Wohnzimmer, der sich steif in den Sessel setzte und sie endlich ansah. Nicht sehr lange, aber doch so lange, dass sich ihr Magen krampfend zusammenzog.

»Diana … hör mal, es ist …, also ich, ähm … ich werde heute noch ausziehen

Eisige Stille breitete sich in dem Zimmer aus.

Peter sah auf seine Hände, die er krampfhaft knetete. Diana setzte sich auf das Sofa, ihre Beine wollten sie nicht mehr tragen. Alles Blut war aus ihren Adern gewichen, die Augen hatte sie ungläubig aufgerissen.

Nachdem sie tief durchgeatmet hatte, fragte sie nur ein Wort:

»Warum

»Ich habe jemanden kennengelernt. Sie ist…«

»NEIN!«, rief Diana und sprang auf, »ich will es nicht wissen. Sage am besten gar nichts mehr

Mit hängendem Kopf, stand Peter auf, ging aus dem Raum, und kurz darauf hörte sie, wie im Schlafzimmer die Schranktüren geöffnet und wieder geschlossen wurden. Diana setzte sich auf den Sessel. Ihre Gedanken fuhren Karussell.

Das darf doch nicht wahr sein. Wieso will er die Kinder und mich verlassen? Warum gibt es eine andere Frau? War sie seine vielen Überstunden in den letzten Wochen? Wieso habe ich nichts bemerkt? Wieso nicht?

Erschrocken sah sie auf. Die Tür war ins Schloss gefallen. Schnell stand Diana auf, lief in den Flur, – und wurde bleich. Sein Schlüssel lag auf dem Schränkchen, auf dem sie die Handys ablegten, wenn sie nach Hause kamen. Die Ladestation und sein Mobiltelefon hatte er mitgenommen.

*

Tage und Wochen kamen und gingen im gleichmäßigen Trott. Mal zogen sie sich zäh wie Brei, dann wieder flogen sie an ihr vorbei, ohne, dass sie von ihr richtig wahrgenommen wurden. Mechanisch erfüllte Diana ihre Aufgaben als Mutter, Hausfrau und Kontoristin in dem Betrieb, in dem sie seit Jahren angestellt war. Der Tag, an dem der Scheidungsantrag von Peter und dessen Anwalt gestellt wurde, und in ihrem Briefkasten lag, warf sie emotional wieder zurück. Eben erst hatte sie begonnen, mit der ganzen Situation klarzukommen, es zu akzeptieren.

Ihr Leiden verstärkte sich wieder.

Nie hätte Diana es für möglich gehalten, dass es etwas viel Schlimmeres geben würde, als diese Art von Trennungsschmerz.

*

Nervös sah Diana auf die Uhr, die in der Küche neben dem Fenster hing. Warum rief ihre älteste Tochter nicht an? Sie hatte sich in den letzten Tagen nicht wohlgefühlt, wollte an diesem Morgen zum Arzt, der sie eingehend untersuchen sollte. Die ständige Müdigkeit, die Minuten, in denen sie nichts von der Umwelt wahrnahm, die schnelle, unkontrollierte Gewichtsabnahme, das und andere Unpässlichkeiten der jungen Frau bereiteten der Mutter große Sorgen. Maria kam bereits mit einem Gendefekt zur Welt. Mit einem Jahr trug sie Nachtschienen, mit Drei war sie mit ihr in der Gehschule, beim Ergotherapeuten und in einem Gymnastikkurs, der von der Krankenkasse angeboten wurde. Mit Zwölf musste ihre Tochter ein Korsett aus Hartplastik tragen, mit Vierzehn wurde sie trotzdem an der Wirbelsäule operiert. Es folgten in den weiteren Jahren leichte und schwere Schübe dieser vermaledeiten Krankheit. Ihre Hände konnten kein Gewicht tragen, die Feinmotorik wurde schlechter. Die Finger verkrümmten sich genauso wie die Zehen. Ihr Gang wurde hinkender, schwerfälliger, Treppensteigen wurde zur Qual. Es kamen Schluckbeschwerden dazu, nicht einmal kleine Bissen konnte das Mädchen unzerkaut runterschlucken. Trotz dieser vielen Handicaps war Maria eine starke junge Frau geworden, die sich ihrer Krankheit bewusst war, sie aber soweit es ging ignorierte und auch akzeptierte, dass sie vieles nicht konnte oder mit der Zeit nicht mehr können würde.

Nur wenige Menschen haben diese Krankheit, und Hoffnung auf Hilfe oder gar Heilung gab und gibt es nicht.

Hereditäre motorisch-sensible Neuropathie heißt diese unheilbare Krankheit, deren Verlauf ein schleichender Tod ist. Damals, als Maria geboren wurde, gab es diesen Namen dafür noch nicht, da hieß sie: Charcot-Marie-Tooth-Krankheit, kurz CMT genannt. Jemandem die Schuld zu geben, dass ausgerechnet ihre Tochter diese Erbkrankheit bekommen hatte, wäre sinnlos gewesen, wer hätte denn ahnen können, dass es so kommen würde.

 

Ein Gefühl der Angst stieg in Diana auf, doch sie schob sie weg, wollte sie nicht so weit hochkommen lassen, dass sie sich darin verlor. Es gelang ihr nicht. Ein Wissen, das nur eine Mutter spüren konnte, drängte sich auf, ließ sie unruhig werden. In ihr schrie es laut: »GEFAHR!«

Diana nahm den Schlüsselbund, rannte die drei Stockwerke hinunter, stieg in ihren Wagen und fuhr zur Wohnung ihrer Tochter. Lange lebte sie noch nicht dort, doch war in den Räumen bereits eine Gemütlichkeit eingezogen, in der man gern verweilte.

 

Diana stieg in den Aufzug. Im fünften Stock trat sie in den Flur und ging an drei Türen vorbei. Mit zitternden Fingern steckte sie den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür.

Es war still. Nichts war zu hören. Diana ging mit einer stoischen Sicherheit am Badezimmer vorbei, blickte nicht hinein. Nein, dort drin war ihre Tochter nicht. Sie war nicht in der Duschwanne ausgerutscht, hatte sich nicht den Kopf gestoßen, lag nicht besinnungslos auf den kalten Fliesen.

Im Wohnzimmer stand eine Styroporschachtel mit Essen darin, das Maria kaum angerührt hatte. Die Tür zum Schlafzimmer war angelehnt. Diana wusste, dass sie nicht nach ihrer Tochter rufen musste.

Sie würde keine Antwort bekommen.

In ihr breitete sich eine Eiseskälte aus, ihr Herz schlug laut und wild gegen ihre Brust. Und doch ging sie Schritt für Schritt auf die angelehnte Tür zu.

Wie ferngesteuert öffnete sie sie und trat ein. Maria, ihre älteste Tochter, auf die sie immer so stolz war, die trotz körperlichen Einschränkungen ihr Leben im Griff hatte. Maria, die einen scharfen, klaren Verstand hatte, nie ein Blatt vor dem Mund nahm. Dieser wunderbare Mensch, diese heißgeliebte Tochter, lag in ihrem Bett. Die Decke war verrutscht, legte ein Bein frei. Ihr Körper war leicht zur Seite gedreht – ihre Augen und Mund standen offen.

 

»Nein!«, schrie es in Diana. »Bitte, nicht. Nicht meine Maria.«

Und doch war die Erkenntnis da, schlug eisenhart zu, gab ihrem Verstand zu verstehen, dass ihre Tochter nie mehr aufwachen würde. Sie würde kein Streitgespräch mehr mit ihr führen, ihr Lachen nicht mehr hören. Nie mehr ihren Blick sehen, wenn sie einen skeptisch ansah.

Maria, die Tochter von Diana war tot. Sie lag in ihrem Bett, und die von Entsetzen erfüllte Mutter, wollte es nicht wahrhaben. Sachte setzte sie sich ans Bett, strich ihrer Tochter das Haar aus dem Gesicht. Leise sprach sie zu ihr:

»Nein, Maria, bitte wache wieder auf. Gehe nicht ganz fort, komme zurück. Zurück zu mir, zu deiner Familie. Bitte, bitte mein Kind

Brennend sammelten sich die Tränen in ihren Augen und liefen heiß die bleichen Wangen hinab.

 

In Diana brach alles zusammen. Der Schmerz bohrte und trommelte gegen ihr Herz. Das Atmen fiel ihr schwer, der Kopf wollte zerspringen. Immer wieder bat sie, Maria sollte wach werden. Sie wollte und konnte nicht verstehen, dass ihr Mädchen nicht mehr lebte. Wieder und wieder strich sie ihr das Haar aus der Stirn, hielt ihre Hand, die sich so verdammt kalt anfühlte. Dumpf, schwarz und schwer legte sich die Trauer über die Mutter, hüllte sie ein, nahm ihr jedes Gottvertrauen. Die Tränen wollten nicht enden, der Schmerz zehrte an ihrer Seele, ließ sie in tausende, weinende Splitter zerspringen.

Diana legte sich neben ihre Tochter, hielt sie fest in den Armen. Leise sang sie ihr ein Kinderlied vor, das sie ihrem kleinen Mädchen so oft vorgesungen hatte, wenn sie sie ins Bett gebracht hatte. Dianas Stimme stockte, zitterte, bis sie kippte. Herzzerreißende Schluchzer drangen über ihre Lippen, ihr Atem ging noch schwerer. Die Arme fest um ihr Kind gelegt, weinte sie. Sie weinte ihren Kummer, ihren Gram, ihren Schmerz heraus. Eine Flut von unsagbar bitteren Tränen benetzte das Kopfkissen.

Diana konnte sich nicht beruhigen. So sehr sie versuchte ruhiger zu atmen, die Tränen versiegen zu lassen, sie schaffte es nicht. Der sinnlose Tod ihrer Tochter raubte ihr jeden Funken Vernunft. Also presste sie die Arme noch stärker um Maria und ließ die Bluttränen einer Mutter laufen. Der Schmerz tobte in ihr, als ob ein Vulkan mit seiner glühenden Lava ausbrechen wollte, um alles zu verschlingen, zu bedecken.

So tief in ihrem Schmerz gefangen, war es nur noch ein kleiner Schritt weiter, und Diana würde den Verstand verlieren. Dann würde diese unendliche Trauer in ihr, die Wut auf Gott, die Verbitterung, die in ihr brodelte, zum Höhepunkt hochgeschaukelt werden. Es war niemand da, der sie auffangen, halten würde.

Plötzlich spürte Diana eine warme, mit Liebe durchtränkte Präsenz, die das Zimmer und ihre Seele ausfüllte. Eine Hand, die sich auf ihre Schulter legte und sanft drückte, gab ihr den Halt, den sie so dringend benötigte, um nicht in ein schwarzes, tiefes Loch zu fallen, aus dem sie lange nicht aus eigener Kraft herauskommen würde.

Diese Hand hielt sie auf, ließ die Tränen versiegen, den Schmerz erträglicher werden, und eine tiefe, innere Ruhe legte sich um ihren Geist und bebenden Körper. Diana atmete ruhiger, und eine Geborgenheit machte sich in ihr breit, die sie sicher im Hier und Jetzt festhielt.

So plötzlich wie der Engel erschienen war, um ihr in dieser großen und schweren Not beizustehen, so plötzlich löste sich diese Präsenz wieder auf.

Zurück blieb eine Frau, die die Arme von ihrer Tochter löste und aufstand. Im Bad wusch sie sich das gerötete und geschwollene Gesicht. Etwas in Diana verhinderte, dass sie wieder in diese unsagbare Trauer und Verzweiflung stürzte.

Sie wählte den Notruf.

 

Ob Diana an Gott und Engel glaubte? Nein, eigentlich nicht. Und doch wurde ihr ein Wesen geschickt, das ihr geholfen hatte, für sie da war, als die Not am größten war.

 

Eine Nacht vor der Beerdigung wollte der Wahnsinn die verwaiste Mutter packen, sie in die Tiefe der grausamen Traurigkeit werfen. Doch wieder erfuhr sie eine Hilfe, die sie stärkte. Diana fiel in einen festen Schlaf und träumte. Sie träumte von ihrer Maria. Die junge Frau stand mit Menschen, die jung, alt, klein, groß waren, auf einer saftigen Wiese. Nur eine stattliche alte Eiche stand dort und darunter ein großer Holztisch. Auf ihm lagen Pläne, Zettel, kleine Dinge. Maria wurde von diesen Menschen umringt. Diana stand etwas abseits und beobachtete ihre Tochter, die viel gesünder und gestärkter aussah, als zu Lebzeiten. Ein Schmunzeln legte sich über ihre Lippen, als sie Maria hörte, wie sie Anweisungen gab und Ideen vorschlug. Anscheinend ging es um ein Fest, das bald stattfinden sollte, und wie sie ihre Tochter kannte, hatte sie das Zepter in die Hand genommen und führte die Leute an.

Langsam schritt Diana durch das saftige Gras, bis sie von Maria wahrgenommen wurde. Mit lachendem Gesicht kam sie auf ihre Mutter zu. Still standen sie einen Moment voreinander, bis Diana sagte:

»Komme wieder nach Hause, Kind. Wir alle, vermissen dich so sehr. Du fehlst uns«.

Maria schüttelte mit dem Kopf und erklärte:

»Mama, mir geht es hier so viel besser. Ich fühle mich gesund, es geht mir sehr gut. Ich will nicht zurück. Lasse mich hier, gräme dich nicht. Denke immer daran, wenn du traurig bist, wie du mich hier, in diesem Moment siehst. Ich will, dass du weißt, dass ich mich noch nie so wohl und gesund gefühlt habe, deshalb gönne mir diese Freude und schmälere sie nicht, indem du mit dem Schicksal haderst. Alles ist gut, so wie es ist«.

 

Bevor Diana ihrer Tochter über die Wange streicheln und sie in den Arm nehmen konnte, verblassten die sattgrüne Wiese, die jahrhundertalte Eiche, die fremden Menschen und schließlich ihr Kind.

Sie öffnete die Augen und wieder spürte sie diese unfassbar starke, liebevolle Präsenz im Raum. Ihr Engel war da, hatte ihr im Traum gezeigt, dass es der Tochter gut ging. Besser, als jemals zuvor.

An diesem Traum hielt sich die Mutter, als das Aschengefäß in der kleinen, berstend vollen Kirche stand. Als sie die erste von hunderten Rosen vor die Urnenwand legte. Auch, als sie die Beileidsbekundungen starr und bleich entgegennahm.

 

Heute sind vier Jahre vergangen. Dianas Ehe wurde geschieden, die jüngeren Kinder sind mittlerweile erwachsen und ausgezogen. Sie lebt alleine, und das ist für sie in Ordnung. Ihr Engel kam nicht wieder, doch manchmal spürte sie diese unglaubliche Liebe, die ihr Halt und Zuversicht gibt. Die Trauer um ihre Tochter ist immer in ihr, doch sie ist erträglicher geworden, will sie nicht auffressen, sie nicht in das schwarze Loch werfen. Jeden Tag spricht sie mit Maria und sieht dabei ihr Foto in dem silbernen Bilderrahmen an. Diana hat gelernt den Tod zu akzeptieren, auch wenn er diejenigen holt, die eigentlich nicht gehen sollten. Noch immer hadert sie, ob es diesen christlichen Gott wirklich gibt. Doch eines weiß sie ganz bestimmt.

Ihr Engel hatte sie besucht, war ihr beigestanden und hatte ihr durch die schwerste Zeit in ihrem Leben geholfen.

 

***