© by Corinna Bergmann

Seit einer guten Stunde durchstreife ich den Flohmarkt und habe die Hoffnung eigentlich schon aufgegeben. Doch halt – vor meinem begehrlichen Blick tut sich plötzlich ein Puppenstand auf. Das Glück scheint sich also doch noch herabzulassen, mir hold zu sein. Ich fische meine Lupe aus der Tasche und betrachte die Figürchen. Eine davon hat langes schwarzes Haar, strahlende blaue Augen und ihr Gesicht ziert ein einnehmendes Lächeln. Ein wenig erinnert sie mich an eine Begegnung aus einem früheren Leben… Hm…

Alle sind gut erhalten, sogar ein paar Fahrzeuge sind dabei – das rosafarbene Retrofahrrad etwa oder da – ein knallroter Ferrari!

„Wünschen, gnä Frau?“, nuschelt der Verkäufer, wobei die fast heruntergebrannte Zigarette aufmunternd in seinem Mundwinkel wippt.

„Hm.“ Noch bin ich mir nicht sicher, ob ich die Schwarzhaarige dazu nehmen soll. Aber – egal. Was solls. „Die und diese und der Junge da – wie viel verlangen Sie für die drei? Ach ja, den Ferrari und das Rad würde ich auch noch nehmen…“

„Mmm, paar Euro, mehr sind die eh nicht wert. Wolln’s S’sich nicht die großen Puppen ansehen? Die da – ’ne echte Käthe Kruse…“

Meine Lippen kräuseln sich spöttisch. Wenn das eine Käthe Kruse ist, dann fress ich sämtliche Besen meiner Urahninnen.

„Ach tatsächlich?“, sage ich und versuche, meinen Spott im Zaum zu halten. Wer weiß, vielleicht erhöht er „paar Euro“ auf viele Euro, wenn ich ihn verärgere. „Ich werde darüber nachdenken. Aber erst einmal brauche ich die Kleinen. Ich habe mir zu Hause nämlich eine Ministadt gebaut, wissen Sie?“

Aber kaum dass ich ausgeredet habe, hat der Verkäufer das Gewünschte in ein Plastiksackerl gepackt. Dann greift er nach einem weißen Minimercedes, der hinter meinem Ferrari geparkt war und brummelt etwas durch die Zigarette, deren Glut sich seinem nikotinvergilbten Bart gefährlich nähert.

„Wie bitte?“ Ich halte eine Hand hinter mein Ohr.

Der Nikotinbärtige nimmt den abgebrannten Stummel aus dem Mund, drückt ihn aus und sagt langsam und laut, als wäre ich eine schwerhörige Alte: „Den könntns auch ham, is ’ne Rostlaube, aber wurscht, Hauptsach, ich bin die klein‘ dreckign Dinger los.“

Ich nehme den weißen Mercedes. „Wohl eher ein Rostläubchen. Oder – ein Röstchenläubchen?“

„Wa‘?“

„Nichts, nichts. Aber – danke.“ Ich zahle meine Ausbeute und mache mich auf den Heimweg.

 

Na, wenn das nicht perfekt ist! Wie ein Kind klatsche ich die Hände zusammen. Jedes Häuschen hat seine Bewohner, jede Garage ihr Fahrzeug. Ein paar Alltagsgegenstände fehlen. Aber die finde ich auch noch. Sogar der kleine Rostlaubenmercedes sieht nach seiner Rundumerneuerung recht schmuck aus. Die Schwarzhaarige steht am Fenster und schaut in den Garten. Wie zufällig ist ihr Blick auf den aufgemotzten Mercedes gerichtet.

Die geerbte Standuhr schlägt zur zwanzigsten Stunde. Ich richte mich auf. Morgen werde ich mir einen Kräutertrunk gegen Rückenschmerzen brauen. Ich steige die Kellertreppe hinauf und nehme den Aufzug zu meiner Dachwohnung. Bevor ich einschlafe, stelle ich den Wecker auf kurz vor Mitternacht.

 

Als ich aufwache, fühle ich mich völlig erschlagen. Klebstoff und Farbe haben ein Übriges getan, um mich alt und krank aussehen zu lassen. Trotzdem muss ich aufstehen. Ich haue mit der flachen Hand auf den Wecker, schlüpfe in Jeans und T-Shirt und begebe mich auf leisen Sohlen in die Katakomben des Hauses. In dem riesigen Raum, den ich dazu gemietet habe, erwacht das Leben für gewöhnlich gegen Mitternacht. Dann empfängt mich das Surren von Rasenmähern; das Lachen der Kinder unter der künstlichen Sonne erheitert mein sonst so düsteres Gemüt; Männer und Frauen, die ihrer Arbeit nachgehen, rufen mir Grüße zu, während Autos und Fahrräder über die befestigten Straßen rollen. So erfreuen sie sich ihres Lebens und bereichern das meine.

Den Spruch, Dinge zum Leben zu erwecken, habe ich vor einigen Jahren im Buch der Hexenrezepte entdeckt. Es gehörte meiner Urururur…-usw.-Ahnin. Wie auch immer – ich genieße mein Spielzeug.

Heute ist etwas anders. Das spüre ich sofort, als ich die Kellertür öffne. Es ist still. Unheimlich still. Vorsichtig nähere ich mich meiner kleinen Stadt. Der Hauptplatz, den ich mühsam mit Blumenbeeten ausgestattet habe, ist verwüstet. Die Pflänzchen sind zerrupft, das Gras haben sie niedergetrampelt, und jetzt stehen sie drauf herum. Alle. Und sie starren mich wütend an.

„Seid ihr wahnsinnig?“ Ich raufe mir die Haare. „Wisst ihr, wie viel Zeit mich eure blöden Blumen gekostet haben?“ Ich meine, das muss man sich einmal vorstellen. Diese kleinen Biester, diese undankbaren.

Ein kleines Mädchen mit Zöpfen schiebt sich aus der Menge und ruft: „Du hast uns angelogen. Du hast gesagt, dass dies unsere Welt ist und dass es sonst keine Welt gibt.“

„Na, stimmt ja auch.“, sage ich. Verdammt, wie haben die das rausbekommen?

Ein Mann stellt sich neben das Mädchen: „Nein, stimmt nicht. Rostläubchen und Schwarzhaar haben uns etwas ganz anderes erzählt. Es gibt eine große Welt da draußen mit einer echten Sonne und echten Blumen.“

Mir bricht der Schweiß aus. Meine Augen fahnden nach der schwarzhaarigen Hexe. Da sitzt sie ja, ganz hinten auf einem Stein wie das weinende Mariechen. Nur dass sie nicht weint, sondern die ganze Farce hinter dem schwarzen Vorhang aus wirrem Haar, beobachtet. Und wenn ich mich nicht irre, dann strahlt ihre gewollt gelangweilte Haltung etwas Boshaftes aus. Rostläubchen steht daneben. Als der Mercedes gewahr wird, dass ich die Schwarzhaarige anstarre, lässt er seinen Motor ein paarmal kräftig aufheulen. Wrummmmmm. Wrummmm.

„Ihr zwei!“ Mein Finger schießt nach vorn. „Euch krall ich mir!“

Doch dazu kommt es nicht. Denn mein Arm wird von einer unsichtbaren Kraft abgebremst und verharrt starr über den Köpfen der vielen Menschlein, die sich erschrocken ducken.

Die Schwarzhaarige steht auf, streckt ihren Rücken durch, steift das wilde Haar aus dem Gesicht und sieht mich an. „Dazu hast du keine Möglichkeit mehr. Ich habe deinen Spruch längst durch einen anderen ersetzt. Bald werden wir alle unsere eigene Stadt in der realen Welt haben.“ Sie grinst mich frech an.

Wrummm. Wrummmm, macht Rostläubchen triumphierend und sein Kühlergrill verzieht sich zu einem schadenfrohen Grinsen.

„Tja, siehst du…“, sagt die Schwarzhaarige. „Wenn du Rostläubchen nicht mitgenommen hättest, wüssten wir immer noch nicht Bescheid. Aber unser allwissender Mercedes hier“ – sie tätschelt seine Motorhaube – „durfte diese Welt, die du uns vorenthalten wolltest, bereits inspizieren.“

Oh, wundervolle Niedertracht, deren glühende Anhängerin ich selbst einst gewesen! Die alte Rostlaube hat mich reingelegt. Gemeinsam mit der schwarzhaarigen Begegnung aus einem früheren Leben. Und in trauter Einigkeit haben sie halt all die anderen Menschlein und Maschinchen gegen mich aufgehetzt.

„Und da brauchte es nur noch deine Hexenkünste, um mein schönes Spielzeug zu zerstören.“, ergänze ich. „Ich wusste doch, ich kenne dich von irgendwoher, du kleines, mieses, schamloses Ungeheuer.“ Heillose Wut durchstreift meinen Körper, aber ich kann nichts machen, weil das Miststück meine Muskeln außer Gefecht gesetzt hat. Aber – bei Odin – sie wird doch nicht…

„Bin gerade dabei.“ Die Schwarzhaarige schwingt ihren Zauberstab und – pling – wir befinden uns auf einer Wiese am Waldrand.

„Oooooohhhh… Aaaaaahhhhh… Uuuuuhhhh…“ tönt es von allen Seiten. Außer sich vor Begeisterung sehen sie sich um, drehen sich in alle Richtungen, halten ihre bleichen Gesichter in die Sonne.

„Jetzt kriegt euch wieder ein.“ Ich klatsche in die Hände. „Wir müssen die Fakten klären. Wollt ihr wirklich schutzlos unter freiem Himmel in so einem Schlumpfdorf leben?“

„Ja! Ja!“, schreien sie mir entgegen. Fast klingt es wie ein Kampfruf.

„Also bitte…“ Ich zucke mit den Schultern. „Dann lebt glücklich bis an euer seliges Ende – oder zumindest bis Gargamel euch findet und feststellt, dass ihr besser schmeckt als ein Auflauf aus hässlichen blauen Schlümpfen.“

 

Ich wende mich ab, weil ich die Häme auf ihren Gesichtern nicht sehen will und halte mir die Ohren zu, um das Beifallgeklatsche nicht hören zu müssen. Als ich weit genug weg bin, atme ich durch. Jetzt höre ich nur noch Vogelgezwitscher. Spontan lasse ich mich ins weiche Gras fallen. Nach der ganzen Zeit im Keller weiß ich schon gar nicht mehr, wie sich das anfühlt. Und während ich so da liege, muss ich feststellen, dass ich bestenfalls ein wenig genervt, aber nicht stinksauer bin. Denn das hätte ich nämlich sein müssen, wenn ich bedenke, wie viel Zeit ich in mein geheimes Spielzeug gesteckt habe. Ja, sehr viel Zeit, vielleicht meine ganze Zeit. Wann war ich zum letzten Mal auf dem Blocksberg? Es müssen Jahre vergangen sein seither. Zähneknirschend muss ich zugeben, dass ich meine frisch gewonnene Erkenntnis dieser kleinen, fiesen Rostlaube verdanke. Aber das wird sie nie erfahren. Bei meiner Hexenehre.