© Wilhelm Maria Lipp

Das Leben ist so ungerecht. Wie lange ich schon wieder in der Schlange stehe. Langsam wird diese kürzer, aber schon ein paar Tage lang war sie nicht so kurz, dass ich endlich wieder an der Reihe bin. Warten! Ich verbringe meine Zeit mit Warten!

Ich habe schon andere Zeiten erlebt. Da war dieser tolle Mann, der ist mit mir durch die gesamte Anlage gefahren. Hat mich nahe an die Regale gebracht, mich aufgefüllt. Manchmal hat er mich losgelassen und genau beobachtet, wie ich die Spur halten habe können, als ich führerlos durch den Raum rollte, dann wieder hat er mich an dem Haltegriff festgehalten.

Er war derjenige, dem das leise Klack, Klack meines linken Vorderrades aufgefallen ist und der dieses Geräusch durch einen Tropfen Öl an die richtige Stelle wieder zum Verstummen brachte. Ganz stolz war ich danach. Ich bin gerollt wie damals, als ich frisch aus der Geburtsklinik gekommen war, wo die Räder montiert worden sind und ich das erste Mal rollen durfte. Genauso zart, genauso leise, genauso gleichmäßig war dieses Rollen nach dem Tropfen Öl.

Als er alle die Pakete aus mir herausgegeben hatte, hat er mich dem nächsten Kunden, – na ja, es war eine Kundin – angepriesen und erzählt, wie wunderbar ich in der Hand liege, wie einfühlsam ich durch die Anlage rolle und wie leise. Da habe ich mich gefühlt, was glaubst du, da wollte ich sofort weiter meine Dienste anbieten.

Aber seither!

Diese Kundin war sehr rasch durch den Laden gefahren, hat mich nicht so richtig geschätzt, glaube ich, denn sie hat nur eine Packung Müslis und ein paar angeschlagene Äpfel eingekauft, und schon war ich wieder leer. Und dann! Dann hat sie mich in die Schlange zurückgebracht und dort angekettet. Einerseits ist das ja gut, weil ich unter Dach stehe, nicht so leicht gestohlen werde, aber andererseits bin ich seither in Warteposition, weil so viele andere hinter mir stehen. Ich bin fast am inneren Ende der Schlange. Die anderen hinter mir werden andauernd aus der Reihe ausgelöst und je nachdem, wie lange die Kunden sie benutzen, wieder in die Reihe zurückgestellt.

Ich weiß das und habe das schon einige Male früher erlebt oder beobachtet. Wenn man so weit am inneren Ende steht, wie ich gerade, muss man bis zum Wochenende warten, dann erst geschieht es, dass wieder beinahe alle von uns gebraucht werden. Und wenn ich Glück habe, gehe ich dann von einer Hand in die andere, werde oft gebraucht und kann wieder stolz beweisen, wie gut ich noch auf meinen Rädern bin.

Und jetzt? Warten!

Beim Warten erinnere ich mich an frühere Erlebnisse.

Da war zum Beispiel eine Familie, eine Mutter mit drei Kindern. Ein Mädel lief neben mir her, ein Mädel saß auf mir und ein Baby schlief in der Tragtasche, die auf mir stand. Ich versuchte so leise wir möglich zu rollen, damit das Baby nicht aufwachte, aber das größere Mädel wollte immer auf mich klettern und riss an mir herum. Die Mutter füllte geduldig ihren Einkauf in meinen Korbwagen. Ich hörte, wie in der Nähe der Kasse die kleinen Verführer den Kindern zuriefen: „Schau doch her und kaufe mich!“, die wollten auch diese kleinen, bunten Süßigkeiten in den Wagen legen, aber ihre Mutter passte auf und legte alles wieder zurück. „Hol dir frische Möhrchen!“, sagte sie zu ihrer Tochter, „die sind auch süß und dazu noch gesund!“. Natürlich wollte das Mädchen nicht mehr alleine zum Gemüse laufen und blieb trotzig beim Wagen stehen. Nach dem Bezahlen ging es raus zu ihrem Auto. Dort wurden erst die beiden kleineren Kinder im Auto verstaut. Da nahm mich die größere Tochter und schob mich ganz alleine über den Parkplatz bis zum Straßenrand. Dort rutschte ich aus und kippte, sodass alles auf den Boden kullerte. War das eine Aufregung, als ihre Mutter das alles bemerkte, aber sie war froh, dass ihrer Tochter nichts passiert war. Dass seither mein linkes Vorderrad leicht klackte, das hat dann erst der Testfahrer bemerkt und repariert.

Ein anderes besonderes Erlebnis war, als ein Junge alleine einkaufen war. Er war etwas dunkelhäutiger als die anderen Kinder, und er war alleine. Auf einem Zettel hatte er aufgeschrieben, was er einkaufen sollte. Auch der wurde von den Verführern an der Kasse gelockt. Und er nahm die eine oder andere Süßigkeit und legte sie in den Wagen zu Milch und Brot, dann schaute er auf den Preis, dann griff er in seine Hosentasche und holte das Geld hervor. Ganz traurig legte er danach die Süßigkeiten wieder zurück ins Regal. Also, wenn ich gekonnt hätte, hätte ich ihm etwas geschenkt. So sehr tat er mir Leid.

Eine ältere Frau, na ja, sagen wir, eine alte Dame, blieb vor jedem Regal lange stehen, wo sie etwas davon haben wollte und kontrollierte alles. Beim Obst und Gemüse griff sie alle Teile an, ob sie weich genug sind, aber nicht zu weich, legte alles wieder zurück und nahm sich dann doch wieder das erste geprüfte Stück und sagte zu ihrer Begleiterin: „Man muss genau aufpassen. Die legen immer jene Stücke nach vorne, die sofort verbraucht werden müssen, aber manchmal machen sie es genau umgekehrt. Ich weiß das, ich habe selber früher in so einem Laden gearbeitet!“ Diese Frau hat schon mehrmals meine Dienste in Anspruch genommen. Was sie auch immer kaufte, gegen Ende stand sie jeweils bei den Konditorprodukten und überlegte, was sie davon mitnehmen wollte. Meistens wurde es ein Gugelhupf, denn der würde nicht so schnell verderben.

Einmal war ich so voll, dass ich kaum noch rollen konnte. Ein Mann hatte ……

Aber davon erzähle ich ein anderes Mal. Endlich hat das Warten ein Ende, ich bin der nächste in der Reihe. Da kommt auch schon jemand. Heeeee, was soll das? Er geht zur anderen Schlange, so ein Mist. Die nächste kommt schon. Sie schwingt ihren Einkaufskorb und schickt ihren Begleiter zum Wagenholen.

Jetzt, ja jetzt bin ich wieder im Einsatz. Ich hoffe, dass die beiden einen langen Einkauf geplant haben, weil ich so gerne durch die Regale rolle und schauen kann, was seit dem letzten Mal alles wieder verändert ist. Und außerdem möchte ich am Ende des Tages wieder eine bessere Startposition haben wie dieses Mal. Schließlich rolle ich so leise und liege so angenehm in der Hand, hat der Herr gesagt, der mit einem Öltropfen das Klacken meines linken Vorderrades zum Verschweigen gebracht hat. Auf geht’s!