© by Michaela Lipp

Alles hat zwei Seiten

Vor Jahren:
Heute Morgen hat sich mein Kind wieder verzettelt, erst verschlafen, dann fand er sein Mäppchen nicht, und im Auto fiel ihm ein, dass er heute Sport hat und noch die Turnschuhe und ein frisches Leiberl braucht.

Tausendmal am Tag sage ich ihm: „Mache deine Sachen rechtzeitig fertig!“ Dann ist die Ampel rot, und wir kommen fünf Minuten nach Schulbeginn an der Schule an. Ich gebe es auf, noch irgendwas zu meinem ungekämmten Sohn zu sagen. Wenigstens sind die Zähne geputzt.

Er rennt, ich fahre weiter, volles Programm heute: Oma versorgen, danach einkaufen. Die Oma wird nicht fertig mit Reden, und ich bekomme leichte Panik. Das Einkaufen drängelt mich. Ich verabschiede mich, obwohl meine Oma noch so viel weiß. Sie ist ja auch oft alleine.

Seufz!

Ab zum Einkaufsladen. Der Parkplatz gerammelt voll. Mein großes Auto passt nicht in jeden Parkplatz. Aber dann habe ich doch einen gefunden. Ich schnappe mir einen Einkaufswagen und renne durch den Laden. Ach so viel ist zu erledigen, ich habe meine Liste dabei. Milch, Mehl, Wurst, Fleisch und, und, und… Mein Wagen wird immer voller, und ich brauche noch Toilettenpapier. Vor mir gondelt eine alte Frau her, immer steht sie mir im Weg. Na, ich hoffe, die ist nicht an der Kasse vor mir.

Aber dann muss ich an meine Oma denken, und ich merke, wie ungerecht ich ihr werde. Schnell überfliege ich nochmal meinen Zettel. Ich habe alles bis aufs… Toilettenpapier. Ich lasse meinen Wagen in der Kassenreihe stehen und laufe zurück. Jetzt wird auch noch die Kasse geschlossen, vor der ich gerade noch stand. Ich stelle mich an der anderen an. Vor mir steht die ältere Frau. Ich wette, die zahlt noch mit Kleingeld.

Ich schaue auf die Uhr, zuhause ist die Waschmaschine fertig, der Trockner wahrscheinlich auch schon und die Geschirrspülmaschine wartet aufs Leerräumen. Ein Berg Bügelwäsche und ein paar Sachen zum Nähen, an die darf ich gar nicht denken. Der Sohn hat heute nur bis 12 Uhr Schule, also will der auch noch etwas Warmes zum Mittagessen. Währenddessen räume ich meine Einkäufe auf das Förderband und sehe, wie die alte Frau die Kassiererin freundlich anlächelt. Sie sieht schön aus, obwohl sie so viele Falten hat. Aber ich habe die Wette mit mir gewonnen: Sie hat Kleingeld im Geldbeutel. Die Kassenfrau wirkt jetzt doch genervt. Aber jetzt geht es weiter. Ich baue meine Einkäufe wieder in den Einkaufswagen, und dann laufe ich flott zur Ausgangstüre, es regnet. Jetzt geht es schnell unter den Kofferraumdeckel. Ich bin nur wenig nass geworden, es war nur eine Wolke. Ich sehe auf die Uhr, es ist Zeit, nach Hause zu fahren.

Auf die Straße – fertig – los!

Ein Auto fährt vor mir. Ein Paar sitzt drinnen, das sehe ich von hinten. Sie fahren knapp unter der Höchstgeschwindigkeit. Langsam um die Kurven. Mir brennt die Zeit unter den Nägeln. Endlich fahren sie rechts ran, nachdem ich ein paar Mal Lichthupe gegeben habe. Das nervt echt.

Heute, also Jahre später:
Wir sitzen im Auto, Willi hat gesagt: „Magst du einen Ausflug machen?“ So fahren wir ins Waldviertel.

Die leuchtenden Mohnblumen zaubern rote Felder und uns ein Lächeln ins Gesicht. Dort ist ein Fleck in Gelb – Raps. Ein Getreidefeld in Grün und am Rand wieder blaue Kornblumen!

So viele Sommerfarben erfreuen unsere Augen. Ab und zu bleiben wir stehen und fotografieren.

Dann kommen wir in einen Wald. Genau hier wollten wir hin. Mit Kamera, Pilzmesser, Kappen, Gehstöcken und ein paar Sackerl im Gepäck gehen wir los. Keiner findet hier Pilze, es ist zu trocken, jeder Ast unter uns knackt laut. Aber wir kaufen uns eine leckere Blunze- eine Blutwurst- beim Metzger und echte Waldviertler Kartoffel auch zwei Mangerl (Mangerl sind Gebäck mit Salz und Mohn bestreut), die werden heute Abend mit etwas Butter gegessen.

Dann geht es nach Hause. Langsam fahren wir, wir haben ja Zeit.

Hinter uns gibt uns jemand Lichthupe, wir fahren bei nächster Gelegenheit rechts ran, lassen die Drängler und die Eiligen vorüber fahren. Wir haben Zeit.