© by Eva Novotny

Die Mutter

Sie war klein, mager, ausgedörrt. Sie trug eine billige Brille, das Haar war straff nach hinten frisiert und zu einem Knoten gerollt.

Ihr Akt war der umfangreichste im Büro unserer Hilfsorganisation. Er war mit Kopien von Strafzetteln und Exekutionsformularen gefüllt, so dass man sich letzten Endes gar nicht mehr auskannte, welche Strafe wofür bezahlt werden sollte oder schon bezahlt worden war.

Wöchentlich fuhr sie nach Stein, um in der dortigen Strafanstalt ihren Sohn zu besuchen. Er hatte jemanden in einem Streit schwer verletzt und sollte dort eine dreijährige Haftstrafe abbüßen. Seine Frau war ihm davongelaufen und die Obsorge über seine drei Kinder war der Mutter übergeben worden. Diese wollte auch die Wohnung des Sohnes erhalten und bezahlte somit die Mieten für zwei Wohnungen, obwohl sie nur eine winzige Vorschusspension erhielt, da man sie noch als arbeitsfähig eingestuft hatte. Sie litt unter Asthma und hatte Probleme mit dem Magen und den Bandscheiben.

Manchmal glaubte ich, die Frau sei dem Tod näher als dem Leben, so abgekämpft sah sie aus. Vieles konnte sie nicht bezahlen, und die Schulden wuchsen ihr über den Kopf.

Sie selbst hatte außer dem eingesperrten Sohn noch vier Kinder. Alle Kinder, bis auf den Zwanzigjährigen im Gefängnis und einem sechzehnjährigen Lehrling, besuchten noch die Volks-und Hauptschule und was fünf Kinder zu Schulbeginn bedeuten, kann sich kaum jemand vorstellen.

Sie kam oft und mit langen Listen, was alle Kinder benötigten, was sie zahlen müssten und wann sie wo sein sollten.

Ich fragte mich oft, wie sie das alles zeitlich schaffte. Sie wusste alle Orte, wo man etwas billig bekommen konnte, holte bei uns Kleidung und Hygieneartikel, Schuhe und Schulsachen und bei einem Bäcker altes Brot. Sie schaffte aber auch nicht immer alles und klagte, dass sie den Lärm zu Hause oft kaum mehr ertrage und dass sich die Mieter unter ihr über die Kinder beschwerten und sie bei Gericht geklagt hätten. Wie eine Löwin kämpfte sie für ihre Kinder. Sie opferte sich selbst auf und wollte für alle nur das Beste. Sie behandelte die Kinder und Enkel liebevoll und sorgte für sie, wie sie es eben konnte. Mann hatte sie keinen, der ihr hätte helfen können.

Aber es war schwer für die Analphabetin. Kein Schreiben konnte sie lesen, keine Mahnung, keine Klage verstehen. Sie wusste nicht, was die Lehrerin den Kindern ins Heft geschrieben hatte und sie kam empört darüber, dass die Kinder von den Aktivitäten der Klasse ausgeschlossen wurden, weil sie dafür nicht bezahlt hatten. Sie kam einfach mit dem Geld nicht aus, wie sollte es sich doch ausgehen, wenn sie zwei Mieten, zweimal Strom, eben für zwei Wohnungen, bezahlen sollte. Bankschulden und Zinsen wuchsen ihr über den Kopf.

Das Jugendamt drohte nur mit der Abnahme der Kinder, deshalb wagte sie sich dort nicht mehr hin.

Als ich einmal einen Häftling in Stein besuchte, lud ich sie ein, mit mir im Auto mitzufahren, damit sie sich die Zugskosten erspare, denn ihre Schwarzfahrschulden waren schon sehr hoch angewachsen.

Auf der Fahrt erzählte sie mir aus ihrem Leben, dass sie in Frankreich und Jugoslawien gelebt habe und wie schwer ihr Leben sei. Sie erzählte, wie traurig sie sei, dass ihr Sohn im Gefängnis sei, dass sich ihr Sohn einmal am ganzen Körper mit Rasierklingen zerschnitten habe, dass er drogenabhängig gewesen sei und jetzt aber krank sei und sie sich große Sorgen um ihn mache. Sie sei schon beim Anstaltsleiter, beim Arzt und Bewährungshelfer und bei der Sozialarbeiterin gewesen und hätte um Verlegung nach Wien gebeten, aber ohne Erfolg. Auf ihre Bitten schrieb auch ich etwas für sie, aber das Schreiben blieb ohne Antwort.

Sie erzählte auch, welchen Spott ihre Kinder, als Romas mit braunem Teint, erleiden müssten. Sogar auf das Ferienlager hatte man sie nicht mitnehmen wollen, doch da sei sie mit den Kindern im Taxi nachgefahren. Die Kinder aber hätten sie oft angerufen, dass sie von den anderen Kindern als Zigeuner verspottet würden, so wie es ihrem Sohn im Gefängnis ergangen war, der danach nicht mehr in die Schule gehen wollte.

Pünktlich um 8 Uhr trafen wir in der Strafanstalt von Stein ein. Die Frau meldete ihren Besuch beim Schalter an und erfuhr, dass ihr Sohn nach dem letzten Freigang nicht mehr zurückgekehrt war. Sie brach in Tränen aus und weinte bitterlich. Sie hatte ihn doch noch zum Zug gebracht und gewunken und er war so unendlich traurig gewesen. Er wusste doch, dass sie kommen und ihn besuchen werde?

Warum hatte er sie nicht angerufen? Er war doch sonst so verlässlich? Vielleicht war er zu seiner Frau gefahren, meinte sie, denn er hatte nicht verkraften können, dass sie die Kinder im Stich gelassen hatte. Ich fragte, ob sie wisse, wo die Frau sei, nein, aber sie vermute, dass diese in Vorarlberg oder in Jugoslawien sei.

„Hoffentlich hat er sich nichts angetan! Vielleicht ist er in die Donau gegangen?“ vermutete sie mit einem tiefen Seufzer.

Die zierliche Frau zitterte am ganzen Körper, schluchzte und weinte, so dass auch mir das Herz  schwer wurde, und ich bewunderte diese Mutter, der, obwohl mit einem Rucksack voll von Sorgen und Nöten, das Wohl ihrer Kinder immer das Wichtigste war.