© by Wilhelm Maria Lipp

Mein Pullover

Beim Frühlingsputz fällt mir mein alter Pullover in die Hand. Meine Mutter hat diesen Pullover gestrickt, damals mit der Strickmaschine. Ich war gerade so 14 geworden, und ich durfte helfen.

„Welche Wolle soll ich nehmen?“, noch immer höre ich ihre Frage. Ich sehe, wie sie am Fenster sitzt, vor ihr die Strickmaschine, und wie den Stickschlitten von links nach rechts, dann wieder nach links zieht. Das Geräusch, das dabei entsteht könnte ich heute noch identifizieren. Eintönig über die Abnehmer hoppelnd, bei jeder Länge wieder neue Wolle aufnehmend, wird dieser Schlitten gezogen. Mit jedem Zug wächst mein Pullover um eine Reihe. Ja, wenn alles vorbereitet ist, geht dann ein Bauch- oder Rückenteil relativ rasch. Da darf ich schon das eine oder andere Mal ein Wollknäuel verarbeiten.

Erst, wenn man „abnehmen“ muss, also wenn nicht mehr gerade gestrickt werden soll, sondern keilförmig, wird es wieder eine Angelegenheit von Mama. Sie kennt sich dabei aus, schließlich strickt sie ja nicht nur für uns, sondern verdienst sich durch solche Strickarbeiten eine Kleinigkeit dazu.

Sie ist zwar eine „studierte Frau“ mit Matura, aber sechs Kinder halten sie von einer anderen Arbeitsstelle ab, da ist sie Vollzeitmutter. So hat sie sich etwas gesucht, was sie daheim machen kann und es auch geht, wenn wir Kinder sie manchmal dazwischen brauchen.

Und wir brauchten sie immer. Bei sechs Kindern gibt es immer jemand, der sie gerade jetzt braucht, wo sie gerade jetzt bei einer Hausaufgabe helfen muss, oder jemand die Leviten lesen muss, weil eins der anderen Kinder gestört worden war.

Da freut es mich, wenn ich sie beim Stricken ein wenig ablösen kann.

 Und jetzt habe ich den besagten Pullover in der Hand. Mit Rollkragen, damit ich es warm habe, wenn der Winter kommt, hat sie ihn gestrickt. Er war jahrelang mein Lieblingspullover. Am Anfang habe ich ihn stolz in der Schule getragen, bis Mitschüler „aus besseren Familien“ sich darüber ausgelassen haben und mir die Freude an diesem Kleidungsstück so von Grund auf verdorben haben.

Später habe ich ihn als junger Ehemann weiter getragen, hab ihn im Winter beim Holzmachen angehabt. Und immer hat er mich gewärmt. Bis, ja bis er so zerschlissen war, dass ich ihn lieber zur Schonung in den Kasten legte. Ganz hinten in den Kasten legte, damit er nie „zufällig“ erkannt und wegen seiner offensichtlicher Mängel den Weg in den Kleidersack gehen müsste.

 Inzwischen bin ich 65, und noch immer liegt der Pulli in meinem Kasten. Seit mindestens 30 Jahren habe ich ihn nicht mehr angehabt. Ich sollte ihn weggeben, ich werde ihn sicher weggeben. Aber – er ist eine Erinnerung an meine Mutter, sie selber hat ihn gemeinsam mit mir gestrickt! Wie kann ich den wirklich weggeben? – Also heute noch nicht.

Ja, mein Verstand sagt es mir, es ist Zeit, Abschied zu nehmen, doch mein Herz weint und sagt: „Ja, schon, aber jetzt noch nicht!“

Gut, ich lege ihn wieder in den Schrank zurück. Ganz nach hinten, als unterstes Kleidungsstück. Gottseidank sind keine Motten drinnen, so kann er mich das nächste Mal, wenn ich Frühjahrsputz mache, wieder an meine Vergangenheit erinnern. An die Zeit als Teenager, an meine Mutter an der Strickmaschine, an meine quengelnden Schwestern, an die Gemeinheiten meiner Schulkameraden, an die Zeiten im Wald zum Holzmachen als junger Ehemann, aber vor allem an die Liebe meiner Mama. Zwar erinnere ich mich auch ohne Pullover an sie, aber das Bewusstsein, dass dieser Pulli von ihr gemacht wurde, wird erst bei meinem eigenen Sterben in Vergessenheit geraten.

Dann wird sich keiner mehr denken können, warum gerade dieser zerschlissene Pullover immer noch nicht entsorgt worden ist, dann mag auch er seinen letzten Weg antreten.