© by Wolfgang Kraus

Muttertag

Gerade erst war Weihnachten gewesen und bald würde seine Mutter Geburtstag feiern, aber dazwischen, gerade während der ersten warmen Tage im Jahr, galt es noch diesen unsäglichen Zusatztermin zu absolvieren: Den Mut-tertag. Dabei verlangten die knospenden und teilweise schon blühenden Bäume und Sträucher viel mehr nach einer Wanderung mit Freunden, nach einem Ausflug mit der Liebsten oder auch einfach nach Dolcefarniente, jenem süßen Nichtstun durchaus auch ganz alleine zu Hause im Garten. Aber nein: Es stand ja der Muttertag bevor. Also galt es nachzudenken, ein passendes Geschenk zu besor-gen, einen Tisch zu reservieren – aber ja nicht irgendwo!

Lukas seufzte. Noch viel zu gut hatte er in Erinnerung, wie man ihm damals, vor Jahrzehnten, im Kindergarten ein Gedicht regelrecht eingebläut hatte, damit er es wohl an Mutters großem Tag fehlerfrei aufsage. Später hatte er schon Wochen vorher mit Laubsäge und Feile an einem Geschenk gebastelt, dem Mutter aber aufgrund dessen mangelhafter und schlampiger Ausführung nie richtig ab-genommen hatte, dass es aus Liebe angefertigt worden war. Also war er in der Folge auf die Idee verfallen, vom spärlichen Rest seines Taschengeldes eine Aufmerksamkeit zu kaufen, allerdings in seinem jugendlichen Denken bar jeder Idee, womit eine erwachsene Frau tatsächlich Freude haben konnte.
Heute, viele Jahre später, war ihm natürlich durchaus bewusst, dass Kinder, die in Geborgenheit und Wohlstand aufwachsen durften, wohl kaum von selbst ein Gefühl dafür entwickeln konnten, dass eben nicht alles selbstver-ständlich war. Es war schon richtig, die Kleinen aufmerk-sam zu machen, wer sich ständig um ihr Wohl sorgte, und sie zu einer Geste der Dankbarkeit zu ermuntern. Auch wenn Lukas fast ausnahmslos verkrampfte Erinnerungen mit diesem Tag verband, hatte er rückblickend doch das Gefühl, dass das zu einem guten Teil an ihm gelegen sein konnte: Er hatte die Idee hinter diesem Tag wohl nie rich-tig verstanden, sondern vielmehr als lästige Pflicht emp-funden, der er ausgesprochen ungern nachgekommen war. Schade eigentlich.

Lukas konnte also nur hoffen, dass es Kindergarten-Betreuerinnen und Lehrkräften heute besser gelang, in den Kindern ehrliche Begeisterung für diese großartige Idee zu wecken. Für ihn selbst war es aber weiterhin kompliziert: Den Kinderschuhen längst entwachsen lebte er schon seit Jahren nicht mehr im elterlichen Haushalt. Zunächst hatte sich aus der erziehenden eine partnerschaftliche Beziehung entwickelt, in der mit den Jahren immer mehr Verantwor-tung von seinen Eltern zu ihm gewandert war. Immer wieder unterstützte er Vater und Mutter mit Rat und Tat, organisierte Handwerker für sie oder erledigte ihren Be-hördenschriftverkehr. In gewissem Sinn hatte sich also ihre Beziehung umgekehrt und umso weniger verstand er, dass er heute immer noch den Tag seiner Mutter zelebrieren sollte. Idee hatte er auch keine – schon allein deswegen, weil er so widerwillig an diesen Pflichttermin dachte. Was also, wenn er den Muttertag diesmal einfach überginge? Wenn er nicht anriefe, sich nicht blicken ließe, kein Ge-schenk organisierte? Die alte Dame würde es wohl über-winden und ein paar Wochen später, zu ihrem Geburtstag, würde er sich dafür nicht lumpen lassen. Sein Gesicht wurde heller: So würde er es machen.

An jenem zweiten Sonntag im Mai stieg Lukas, von der Morgensonne wach geküsst, fröhlich aus seinem Bett. Er unterzog sich einer raschen Toilette, gönnte sich noch einen kleinen Kaffee, trat auf den Flur und warf die Tür hinter sich ins Schloss. Er bewegte sich mit seltsam stak-senden Schritten und war froh, nicht gesehen zu werden. Aber als Radfahrer – als richtiger Radfahrer – brauchte man auch entsprechende Schuhe und die waren auf dem Fliesenboden nicht nur rutschig, sondern auch richtig laut. Als er nach wenigen Schritten den Radkeller erreicht hatte und in seine Tasche nach dem Schlüssel griff, merkte er schockiert, dass eben dieser wohl noch an seinem Platz in der Wohnung hängen musste. Ärgerlich stakste er also zurück, angelte nach seinem Wohnungsschlüssel – und erstarrte: Offenbar lag auch der noch drinnen. Lukas hatte die Tür nur zugeworfen und sich also offenbar ausgesperrt. Eine flotte Tour hätte das werden sollen, aber stattdessen hatte er sich nur Ärger bereitet. Ein Fluch kam ihm über die Lippen. Missmutig setzte er sich auf eine Stufe und dachte nach.
Sollte er einen Aufsperrdienst rufen? Das würde wohl dauern und wäre an einem Sonntag sicher auch recht teuer. Wenn er bloß seiner Nachbarin einen Reserve-Schlüssel überlassen hätte! Schade drum. Obwohl: Einen solchen gab es schon! Lukas griff zu seinem Handy.

Nein, er habe sie nicht aufgeweckt, beruhigte ihn die Angerufene, sogar gefrühstückt habe sie schon. Und nein, sie habe keine anderen Pläne, das hieße, in die Kirche habe sie gehen wollen aber der Herrgott würde das schon ver-stehen. Also ja, sie könne helfen und wäre in einer halben Stunde bei ihm.

Letztlich vergingen gar nur 25 Minuten bis die Dame frohgemut seine Tür öffnete. Lukas umarmte sie mit rotem Kopf, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und sagte:
„Danke! Und: Alles Gute zum Muttertag!“