© by Martina Jöhnck

Annelie

 Sie haben mich fortgetragen, unter den Klängen von „S‘ ist Feierabend“, wie ich es mir von unserer örtlichen Blaskapelle gewünscht hatte. Ein Begräbnis nach guter, alter Sitte. Das halbe Städtchen war da, viele Blumen, wenig Tränen. Nun ja, wer weint schon groß um einen 94-Jährigen. Höchstens Gertraude, meine Tochter. Ihr saßen die Tränen schon locker seit Beginn ihrer verpfuschten Ehe. Aber sie wird zurechtkommen, läuft schließlich genug zur Kirche.

Ich selbst hatte keine Lust mehr am Leben, obwohl jeder mir versicherte, ich werde hundert. Doch irgendwie hielt mich die ganze Zeit wohl nur der Gedanke an Annelie aufrecht.
Siebzig Jahre lang habe ich an sie gedacht, sie war die Liebe meines Lebens, und ich wollte nicht sterben ohne eine letzte Nachricht von ihr, ohne etwas zu erfahren von ihrem Verbleib, ihrem Schicksal.

In jenem Sommer, Ende August 1944, begegneten wir uns. Mein Marschbefehl verschlug mich in die deutsche Stellung „Dromedar“ in Aix bei Bordeaux. Annelie war dort Funkerin, und zum ersten Mal sah ich sie an einem Kameradschaftsabend, wo sie bei der Truppenbetreuung mitwirkte. Man hatte im Offizierskasino eine kleine Bühne improvisiert. Sie spielte Akkordeon und sang dazu mit der gleichen klaren, frischen Stimme wie später die Sängerin Margot Eskens.
Nicht, dass sie schön gewesen wäre, kaum wirklich hübsch zu nennen. Oberflächlich betrachtet, nur eine nette, kleine Blondine mit dieser damals modernen Greta-Garbo-Frisur. Aber ich sah sie – und der Blitz schlug ein. Die berühmte „Liebe auf den ersten Blick“. Wie hieß sie – wer war sie? Ich musste sie unbedingt kennenlernen!

Während ich noch dasaß wie betäubt, zwinkerte sie mir von der Bühne herab zu und sang, mich direkt anlächelnd: „ Ausgerechnet du bist mein Typ, ausgerechnet dich hab ich lieb.“
„Wer ist das?“, fragte ich den erstbesten Kameraden neben mir, und er erwiderte, dies sei Oberhelferin Anneliese Feldmann, jeder nenne sie nur Annelie. Der ganze Saal stand Kopf, sie war eine regelrechte Attraktion.

Nach ihrer Vorstellung kam sie geradewegs an meinen Tisch. Als hätten wir uns verabredet. Sie trug ein graues, weiß getupftes Sommerkleid, das ihr bezaubernd stand. Sie fragte nach meinem Namen, und linkisch stellte ich mich vor. „So – Walter heißt du? Nett klingt das!“ Mir wurde das Herz heiß. Ich fragte sie, was sie trinken möge, schon, um meine Nervosität zu verbergen. Seltsam, wie unsicher die Liebe macht. „Champagner, bitte“, sagte sie mit übermütiger Koketterie und strich sich das helle Haar aus der Stirn. Dabei fielen mir ihre feinen Hände auf, solche, wie man sie auf alten Gemälden sieht. Einzig geschaffen, um Blumen zu tragen, dachte ich unwillkürlich. Schließlich kam der Champagner, Dom Perignon – wir waren ja in Frankreich, wo es das alles noch gab –, und sie nippte daran wie ein Schulmädchen an Limonade. Sie hatte eine Art, wie versonnen die Wimpern zu senken und einem dann tief in die Augen zu schauen, ein Blick, gleichsam bis auf den Grund der Seele. Was wir sprachen an jenem Abend – ich weiß es nicht mehr. Meine übliche Wortgewandtheit hatte mich völlig verlassen. Hier saß ich der Frau meiner Träume gegenüber und kam mir vor wie ein Trottel, weil ich nur atemlose Sätze zuwege brachte, während ich die Sterne hätte rühren mögen. Und doch fühlte ich, dass zwischen uns ein unsichtbares Band entstanden war, ein Raum, in dem es nur noch uns beide gab. Das schienen auch die Kameraden am Tisch gespürt zu haben, denn man ließ uns taktvoll allein dort sitzen.

Dann wurde das Kasino geschlossen, weil alle morgen schließlich wieder Dienst hatten. Aber Annelie und ich, wir konnten uns noch nicht voneinander trennen. Uns beiden war klar, dass wir die Nacht zusammen verbringen würden. Da in den Frauen- beziehungsweise Männerbaracken jeglicher Besuch des anderen Geschlechts strikt verboten war, gingen wir hinaus in das mit Stacheldraht eingezäunte Wäldchen, welches die Stellung umgab. Unter einem samtdunklen Himmel lag undurchdringliche Schwärze zwischen den Pinien. Und es bedurfte keiner weiteren Worte, dass wir niedersanken auf das duftende Nadelbett. Ich breitete meine Uniformjacke für sie aus. So manche Frau war schon die Meine geworden, ich kannte die Spiele der Liebe. „Plaisir d’Amour“ Aber dies war kein Spiel mehr für mich. Es hatte niemals wirklich eine andere für mich gegeben und würde nie mehr eine andere sein. Wir fragten beide nicht nach „Sitte“ oder „Anstand“ und diesem ganzen Unsinn. Wir fragten nicht nach morgen. Denn morgen, da konnte man sterben, bevor man gelebt hatte. Die Liebe und der Krieg setzten alles außer Kraft, was es an Moralgesetzen gab; wir waren jung und leidenschaftlich, es konnte jede Stunde die letzte sein. Alles war gut und richtig, so und nicht anders. Und Annelie, sie hatte vor mir schon geliebt, doch lag sie unerfahren wie ein Kind in meinen Armen. Dass sie glücklich geworden war, erfüllte mich mit unbändiger Freude. Mochte uns vielleicht auch schon in der nächsten Stunde der Tod beschieden sein – dies war das Leben im Augenblick vollkommener Erfüllung.

Wir blieben, bis der Morgen dämmerte und die Vögel zu singen begannen. Es gab kein Verweilen, wir mussten beide unseren Dienst antreten. Ich nahm ihr Gesicht in beide Hände. Ich sagte ihr, dass ich sie liebte. Sie sah mich an, unglaublich schön und strahlend im ersten Licht. Mein Mädchen für immer. Wann bist du frei, fragte ich sie; wann kann ich dich wiedersehen? Sie nannte mir die Stunde. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen, küsste mich und lief davon, leicht wie ein Reh.

Wir verbrachten jede freie Minute miteinander. Alle in der der Stellung wussten, wir waren fest zusammen, und jeder respektierte das. Man achtete und schätzte Annelie, sie war allseits beliebt. Selbst Lagerkommandant Oberstleutnant Biltz sagte scherzhaft zu mir: „Oberfeldwebel Gräbner, ich hoffe sehr, Sie behandeln die Annelie gut – sonst kriegen Sie es mit mir zu tun!“

Viele frohe Momente habe ich noch erlebt seitdem – jedoch, umstellt von Not und Tod, war dies die glücklichste Zeit meines ganzen Lebens. Ich bat sie, mich zu heiraten; bestimmt würden wir Urlaub dafür bekommen, und sie gab mir ihr Jawort. Aber wir wussten auch beide, wie schnell alles vorbei sein konnte. „Annelie“, sagte ich, „bitte versprich mir, sollte ich eines Tages nicht zurückkommen von einem Einsatz, dann darfst du nicht auf mich warten. Ich will nicht, dass du deine Jugend versäumst. Du sollst glücklich werden; für eine Frau wie dich wird es immer einen guten Mann geben!“ Darauf warf sie mir ihre Arme um den Hals und begann furchtbar zu weinen. Ach Mädel! Ich wiegte sie wie ein Kind, wir konnten beide nicht sprechen.

Ich lernte schnell, dass sie alles sein konnte: Kess und naiv, leidenschaftlich nah bei mir, doch auch abwesend, fern. Mir schien, ich würde sie niemals wirklich kennen, sie blieb mir immer ein Rätsel, jeder Augenblick mit ihr war neu, und das machte jene kaum drei Wochen unserer Liebe magisch, unvergesslich. Wir lachten oft zusammen, sie sprühte dann vor Witz, doch ich sah auch etwas wie Schwermut in ihrem Gesicht, die Narbe an ihrem linken Handgelenk. Sie hatte versucht, sich das Leben zu nehmen, als ihr einziger Bruder desertiert war und erschossen wurde. Ich wollte sie beschützen für immer, sie war mein Mädel, meine einzige Annelie. Wir standen im gleichen Alter, und wie sie mir erzählte, war ihr Vater Direktor eines großen Lederwerks in ihrer Heimatstadt Bad Kreuznach, daher auch ihr reizender rheinischer Akzent; sie selbst hatte am Lyzeum Abitur gemacht und sprach davon, nach dem Krieg Medizin zu studieren. Als einfacher Infanterist fühlte ich mich eingeschüchtert durch so hochfliegende Pläne. Sie machten mir Angst, Annelie zu verlieren. Gleichwohl wollte ich ihr nichts verschweigen. Nichts von meinem schlichten Elternhaus in Hamburg, wo mein Vater als Dreher auf der Werft Mutter und uns drei Kinder, mich und meine beiden Schwestern, mehr schlecht als recht ernähren konnte. Ich selbst hatte Schlosser gelernt, nur die Volksschule besucht. Aber unsere Liebe mit einer Lüge zu belasten, brachte ich nicht über mich. „Willst du wirklich einen armen Burschen wie mich nehmen?“, fragte ich Annelie, halb im Scherz. – Doch sie sah mich erschrocken an, öffnete den Mund, wie, um etwas zu erwidern, barg aber dann nur ihr Gesicht an meiner Schulter und schwieg, sich fest anschmiegend. Ich ließ das Thema ruhen. Doch, dass ein Mädchen wie sie gerade mich liebte, begriff ich kaum, denn es war sonderbar, sie schien auch auf andere Männer geradezu magnetisch zu wirken.

Besonders einer, Feldwebel Ernst Wagner, scharwenzelte ständig um sie herum. Er war auch der Grund für unsere Trennung. Offenbar hatte er ihr erzählt, ich sei nicht etwa eine Woche lang im Dienst, sondern wegen eines Trippers im Lazarett gewesen, woraufhin Annelie jedes Wiedersehen verweigerte als ich zurückkam. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Warum hatte sie nicht einfach in der Kommandantur nachgefragt – statt sich Wagners Geschwätz anzuhören! Diese elende Ratte! Ich suchte ihn, wollte ihn mir zur Brust nehmen – auch wenn ich dafür in den Bau würde gehen müssen! Aber der Kerl war im Einsatz, und so erwischte ich ihn nicht. In meiner Verzweiflung schrieb ich einen Brief an Annelie, gab ihn ihrer Zimmerkameradin, Fritzi, einer munteren Wienerin mit hohem Männerverschleiß, die mir versprach, ihn Annelie nach deren Dienstschluss zu geben. Damit hoffte ich, die Sache aus der Welt schaffen zu können. – Alles, alles wollte tun – wenn nur mein Mädel mir wieder glaubte!

Jedoch am selben Tag noch wurde ich abkommandiert und geriet mit vier Kameraden in einen Hinterhalt der „Maquis“, wie wir die Partisanen nannten, die jeden von uns vier Wochen lang immer wieder folterten, mir die Füße verbrannten und mich fast umbrachten. Aber wir waren ziemlich harte Hunde und hielten durch, ohne ihnen zu verraten, was sie über unsere strategischen Pläne wissen wollten. Dann befreite uns ein Spähtrupp, und die Partisanen mussten sich zurückziehen. Für vierzehn Tage kam ich ins Lazarett, mehr tot als lebendig, doch alles in allem hatte ich noch einmal mächtiges Glück gehabt.

Zurück nach Stellung „Dromedar“ konnte ich nicht, denn sie war unterdessen aufgelöst worden; die Maquis, besetzten anscheinend die ganze Gegend. Deren radikale Skrupellosigkeit kannte und fürchtete jeder von uns. Sie waren zu allem fähig. Einmal hatte ich erlebt, wie sie einen Zug voller Ferienkinder in die Luft gesprengt hatten, nur weil ein Waggon mit deutschen Soldaten hintendran gehängt gewesen war; ich musste dann helfen, die Verletzten und Leichen zu bergen – nie vorher und niemals nachher habe ich Grauenhafteres gesehen. Und jetzt lauerten sie offenbar überall. Als einem der Letzten gelang mir endlich die Flucht im Panzer durch den Tunnel von Besancon, und Annelie – – – wen ich auch fragte, niemand konnte mir Auskunft geben.

Mit einem Truppentransport ging es anschließend nach Straßburg, von dort aus nach Swinemünde in Pommern. Der Ort wimmelte von Flüchtlingen; alles arme Teufel, die nichts sehnlicher wünschten, als den Russen zu entkommen, möglichst weit in den Westen. Auch hier hielt ich Ausschau nach Annelie, doch vergebens. Würden wir uns überhaupt jemals wiedersehen? In diesen Zeiten war dies für jeden von zentraler Bedeutung: Zu finden, was man verloren hatte, etwas, das wenigstens ein wenig Halt gab und neue Kraft, durchzuhalten, zu überleben. Also nahm man, was sich bot. Und viele der jungen Frauen stürzten sich ins Abenteuer.
Nun, ich war kein Heiliger. Da kam es dann natürlich zu dem und jenem Techtelmechtel. Für eine Nacht, einige Tage. Bedeutungslos. In meinem Herzen gab es immer nur eine Einzige: Annelie.

So verging der Winter. Anfang März erlebten wir schwere Bombardements der Amerikaner, danach durch die Engländer. Und ständig hörten wir die Meldung vom Vorrücken der Roten Armee. Hoffentlich war Annelie nicht auch irgendwo an der Ostfront, denn ich machte mir Sorgen wegen der Russen. Wir alle kannten ja die Schreckensgeschichten von Vergewaltigungen; schon der Gedanke war mir unerträglich.

Am Morgen des 5. Mai kamen sie, man hörte bereits ihren Geschützdonner. Unsere Stellung befand sich seit Tagen in Auflösung – endlich hieß es jetzt: „Macht, dass ihr wegkommt!“ Zu retten war ja nichts mehr, nur das eigene Leben. Mit ungeheurem Glück gelang es mir und noch weiteren fünf oder sechs Kameraden, auf den letzten Zug nach Kiel zu springen. Von dort aus nahm mich mehrere Stunden später ein Veteran aus dem ersten Weltkrieg in seinem klapperigen Holzlaster nach Hamburg mit.

Unser Haus in Altona fand ich vollständig in Trümmern. Wo waren meine Leute? Ich ging durch die die einstigen, nun zerstörten Straßen, suchte in wachsender Verzweiflung nach bekannten Gesichtern. Endlich stieß ich auf eine alte Nachbarin von damals, Mutter Freese, die mir unter Tränen erzählte, dass meine gesamte Familie in den Bomben umgekommen war.

Ich hatte gedacht, mich könne kaum noch etwas erschüttern, nachdem ich so viele Kameraden hatte sterben sehen und selbst oft nur um Haaresbreite dem Tod entgangen war. Aber diese Nachricht traf mich wie ein Hammerschlag. Der Boden schien zu wanken unter meinen Füßen. Ich musste mich setzen, ließ mich nieder auf einen der umherliegenden Mauerbrocken.

Wie lange ich dort hockte, weiß ich nicht mehr, doch auf einmal fasste mich jemand an der Schulter; es war Mutter Freese, Komm mit, Junge, sagte sie, wir haben eine Unterkunft, hier ganz in der Nähe. Mechanisch erhob ich mich und ging mit ihr. Sie, ihr Mann Hark, die beiden Kinder mit vier Enkeln saßen zwei Straßenzüge weiter in einem ausrangierten Eisenbahnwaggon wie Sardinen in einer Büchse. Mitfühlend reichte mir Hark einen Becher „Heißgetränk“, das scheußliche Gebräu, das man damals mangels Tee oder Kaffee trank. Mitfühlend – – – sie hatten ja selbst alles verloren, wenngleich wenigstens die Familie noch beisammen war.

Alma, die alte Frau, tischte eben einige Kartoffeln auf und lud mich ein, mitzuessen. Aber um nichts in der Welt hätte ich auch nur einen Bissen hinunter bekommen. In meinem Rucksack steckten mehrere Rationen Büchsenfleisch, Schokolade, Dosenbrot und Zigaretten. Zwar rauchte ich selbst nicht, doch damals konnte man weit kommen mit Zigaretten oder Tabak, also behielt ich sie, während ich die anderen Sachen daließ. Die Kinder hatten sicher Hunger. Man wolle mich nicht berauben, wehrten sie ab, ich brauche doch schließlich selber all diese Dinge. „Schon in Ordnung“, erwiderte ich. „Ich muss weiter!“ Dabei wusste ich nur zu gut, dass ich mich innerhalb von 24 Stunden in der nächsten Kaserne hätte melden müssen, ansonsten würde ich als Deserteur standrechtlich erschossen werden. Dass der Krieg drei Tage später vorbei sein würde, konnte ich ja nicht ahnen. Zerschlagen an Leib und Seele war mir meine Leben ohnehin egal. Ich würde nicht mehr mittun in diesem Wahnsinn, der mir alles genommen hatte, was ich liebte.

Also verabschiedete ich mich. Die alten Leute umarmten mich mit Tränen in den Augen und wünschten mir alles Gute. Vielleicht würde man sich einmal wiedersehen. Aber mich hielt nichts mehr. Zeit zum Trauern hatte ich nicht. Mein Ziel war jetzt der Süden, besser gesagt, Bad Kreuznach, Annelies Heimatstadt. Womöglich konnte ich ihre Eltern ausfindig machen – oder sie war sogar selbst dort. Jedenfalls würde doch zumindest ihre Familie durch die Feldpost über Annelies derzeitigen Aufenthalt Bescheid wissen, und ich konnte dort auf sie warten, bis – –  ja, bis dieser gottverdammte Krieg vorüber war. Lange konnte es nicht mehr dauern, dachte ich, und dieser Gedanke gab mir Kraft.

Ich streunte durch die Straßen, hielt Ausschau nach irgendeinem Wagen, der mich vielleicht mitnehmen würde, wenigstens eine kleine Strecke weit. Kein Zug fuhr mehr, außerdem war ich sowieso abgebrannt. Endlich erspähte ich ein Lieferauto, das Zementsäcke geladen hatte. Der Fahrer, nur wenig jünger als ich, war, soviel ich sehen konnte, einer vom Typ „Hitlers Geheimwaffe“, denn er hatte eine schiefe Schulter, war offenbar nicht bei der Wehrmacht gewesen. Auf meine Frage, ob er einen Mitfahrer und Helfer beim Ausladen brauchen könne, entgegnete er sofort: „Sicher, steig ein!“ „Wohin fährst du?“ „Ach, ganz hinunter bis nach Mainz“. „Wunderbar“, sagte ich, „genau meine Richtung“. So einfach war das! Aber mir war klar, dass ich so schnell wie möglich meine Uniform loswerden musste, also fragte ich den Burschen, ob er nicht zufällig ein paar Klamotten für mich habe, weil ich in geheimer Mission unterwegs sei. Besser, ich war vorsichtig. Tatsächlich lag hinter der Fahrerkabine ein Bündel alter Sachen, mehr Lumpen als Kleidungsstücke, doch das kümmerte mich nicht. Noch während der Fahrt streifte ich meine Uniform ab und warf sie, samt Hundemarke und Soldbuch, in ein Flüsschen entlang der Landstraße. Damit war Oberfeldwebel Walter Gräbner Geschichte.

Das muntere Geplauder des Jungen ging mir zwar auf die Nerven, denn nach Unterhaltung war mir nicht zumute, aber er schien eine ehrliche Haut zu sein und meinte es offenbar gut, also teilte ich meine letzte Dauerwurst mit ihm und gab ihm auch ein Päckchen Tabak.

Schließlich, bereits gegen Abend, erreichten wir Mainz, und wie versprochen, half ich beim Ausladen der Zementsäcke, denn der Bursche schien mir nicht der Kräftigste. Bad Kreuznach? Ja, soweit er wisse, ungefähr dreißig, höchstens vierzig Kilometer weit von hier, da müsse ich mich durchfragen. „Schön, danke, und gute Fahrt!“

Es wurde schon dunkel, war jedoch ein lauer Abend, also legte ich mich zum Schlafen in einen kleinen Park am Stadtrand hinter die Büsche. Die Nacht blieb ruhig, ohne irgendeinen Fliegerangriff. Doch ich fand keine Ruhe, zu viel war über mich hereingebrochen an diesem Tag. Annelie – wo mochte sie sein? Ob sie noch an mich dachte? Oder hatte sie einen anderen gefunden, mich vergessen? Es tat weh, sich derart den Kopf zu zermartern, doch ich quälte mich mit diesen Gedanken bis zum Morgengrauen.

Dann erhob ich mich, ging unschlüssig durch die Straßen. Hier sah es nicht so schlimm aus wie in Hamburg, aber dennoch atmete alles den Ausnahmezustand. Kaum jemand war unterwegs, den ich hätte nach dem Weg fragen können. Eine Landkarte besaß ich nicht, immer südwärts, hatte der Fahrer gesagt. Nun gut, im Osten wurde es hell, also musste Süden … aber die ganze Strecke konnte ich wohl kaum zu Fuß bewältigen, vielleicht kam ja auch ein Fuhrwerk, wo ich mich nützlich machen und mitfahren konnte.

Da sah ich ein Herrenrad an einen Zaun gelehnt. Nicht neu, aber anscheinend brauchbar und mir offensichtlich direkt vom Himmel geschickt. Ohne lange zu überlegen, schwang ich mich in den Sattel und radelte los; nach dem Weg fragen konnte ich, sobald ich außer Sicht war.

Ein Postbote wies mir dann die Straße, die ich nehmen musste. „Immer geradeaus“, sagte er, „und dann auf die Schilder schauen“. Allzu weit sei es nicht, Bad Kreuznach könne ich gar nicht verfehlen. Wenn nur das Rad durchhielt; mir selbst traute ich es allemal zu, jung und kräftig, wie ich war. Aber Durst hatte ich auf einmal. Und gewaltigen Hunger. Jetzt bereute ich es doch, sämtliche Esswaren verschenkt zu haben, doch da ließ sich eben nichts mehr machen. Rechterhand lag dann dieses kleine Bauernhaus, wo ich beschloss, um einen Trunk Wasser zu bitten. Eben kam eine rundliche ältere Frau heraus, die im Begriff war, ihre Hühner zum Futter zu locken: „Komm, tück-tück-tück!“ Ich wartete, bis sie die Körner gestreut hatte und sprach sie an. „Ei gell, sischer, kommense nei und setze sisch e bissl.“ Etwas Liebes wehte mich an, fast glaubte ich, Annelie zu hören. Die grauhaarige Frau lud mich ein, auf der Hausbank zu rasten, brachte mir einen großen Becher mit Wasser, das ich hastig trank. Doch anscheinend machte auf einmal mein Kreislauf nicht mehr mit, mir verschwamm alles, ich spürte, dass ich völlig fertig war. Teilnehmend sah die Bäuerin mich an. „Isch Ihne schlescht?“ Ich bin niemals dahinter gekommen, es musste eine verspätete Reaktion gewesen sein – jedenfalls erlitt ich einen regelrechten Zusammenbruch. Vor der Hausbank stand auch ein grob gezimmerter Tisch, auf den ich jetzt  beide Ellenbogen stützte und mein Gesicht in den Händen barg, denn mir stürzten die Tränen aus den Augen, ohne dass ich auch nur das Geringste dagegen hätte tun können. Ich weinte, wie ich mich nicht erinnern konnte, jemals zuvor geweint zu haben. Die Greisin setzte sich neben mich, strich mir nur sacht über den Rücken und blieb stumm. Wie lange wir so saßen, weiß ich nicht; schließlich versiegten die Tränen, und etwas wie Ruhe kam über mich. Ich wusste, vor dieser gütigen alten Frau brauchte ich mich nicht zu schämen, wie ich es wohl bei Kameraden getan hätte. Endlich sagte sie leise: „Eh, Bub, was isch los? Willscht mir nix erzähle von dei Kummer?“ Und das tat ich dann auch; stockend redete ich mir alles von der Seele, dass ich meine Eltern verloren hatte und auf der Suche war nach meinem Mädel.

„Jetzt muscht aber was esse, komm nei in die Küch“, sagte die Bäuerin endlich besänftigend. „Isch hab e gute Hafermehlsupp, gell, Bub, s‘ Esse hält Leib und Seel zusamme.“ Und sie bewirtete mich mit einer Suppe, wie ich sie selbst in Frankreich nie so delikat gegessen hatte, dazu hausgebackenes Brot, Schinken, Butter und Honig. Die gute Frau! Sie ist längst dahin – aber mein Dank hat sie hoffentlich begleitet in alle Ewigkeit.
Sie ließ mich nicht gehen ohne Wegzehrung, ein reichliches Paket mit Lebensmitteln für mindestens drei Tage, und ich fühlte mich getröstet von dieser prächtigen Frau; zum Abschied konnte ich nicht anders, als sie herzlich zu umarmen.

Wundersam gestärkt, radelte ich in den frischen Morgen, und nach kürzerer Zeit als ich gedacht hatte, erreichte ich Bad Kreuznach. Dieses malerische Kurstädtchen schien völlig unberührt von den schweren Zeiten; ohne nennenswerte Industrie war es auch kein Angriffsziel gewesen.

Ich fragte am Kornmarkt einen Zeitungsjungen nach dem Lederwerk, von dem Annelie gesprochen hatte und erfuhr, dass es bereits vor einem halben Jahr geschlossen worden war.

Ein neuerlicher Rückschlag – was sollte ich nur tun? Ziellos schob ich mein Rad durch alle Straßen, in der Hoffnung, vielleicht – wunderbarerweise – Annelie zu begegnen. Überflüssig, zu sagen, dass ich enttäuscht wurde. Irgendwo tat sie ja Dienst. Was jetzt beginnen? Wieder bestieg ich mein Fahrrad, fuhr im Kreis, wie mir schien. Mein Herz sank. Diesen ganzen Weg war ich von weit her gekommen, nur, um alles vergeblich zu finden – es war zum Verzweifeln.

In Gedanken verloren, bemerkte ich nicht das Auto. Möglicherweise hatte ich auch die Hupe überhört – jedenfalls lag ich unversehens mit schmerzendem Schienbein im Rinnstein.

Der Fahrer des Daimlers war ausgestiegen und eilte herbei, fragte ob ich verletzt sei. Es geht schon, erwiderte ich, indem ich mich aufrappelte. Mein Rad lag leicht verbeult auf dem Kopfsteinpflaster. Der Mann – eher ein Herr – mochte im Alter meines Vaters sein. Ich muss wohl ziemlich blass ausgesehen haben, denn er gab mir seine Karte, mit der dringenden Bitte, ihn zwecks Entschädigung aufzusuchen.

„Ach, es ist nichts“, wehrte ich ab, „vielen Dank; wahrscheinlich war es sowieso meine eigene Schuld“. „Wie Sie meinen“, versetzte er und drückte mir zu meiner Verblüffung einen 20-Markschein in die Hand. Bevor ich noch protestieren konnte, war er in sein Auto gestiegen und davongefahren.

Zwanzig Mark! Das war viel Geld; womöglich konnte ich damit überleben, bis ich Arbeit gefunden hatte. Ich besah mir die Karte. Geprägtes Büttenpapier. „Karl Vanderoe, Fabrik für feine Zigarren“, stand darauf, dazu auch die Adresse. Plötzlich wurde ich ganz aufgeregt: Was, wenn ich mich dort bewarb? Der Fabrikant schien ein freundlicher, rechtschaffener Mann zu sein. Versuchen konnte ich es allemal!

So besiegelte dieser kleine Unfall unser gemeinsames Schicksal. Noch am selben Tage fragte ich mich durch zu Vanderoes Zigarrenfabrik, stellte mich vor, abgerissen, wie ich war. Aber in jenen Zeiten fragte man nicht viel und nahm, was sich eben bot an Arbeitskräften. Auf Empfehlung eines freundlichen Faktotums fand ich sogar wenige Stunden später ein möbliertes Zimmer ganz in der Nähe meines neuen Arbeitsplatzes.

Bei seinem täglichen Rundgang durch das Werk begegnete mir Vanderoe dann erneut; er freute sich offenbar, mich wiederzusehen. Die Arbeit war leicht und anständig bezahlt, ich war froh über diese glückliche Fügung und entschlossen, mein Bestes zu geben. Der Krieg war inzwischen ja vorbei, also brauchte ich nicht länger zu fürchten, als Deserteur entdeckt zu werden. Doch immer und überall hoffte ich, Annelie wiederzufinden. Ich konnte und konnte sie nicht vergessen, wie viel Zeit auch verstrich.

Eines Tages musste ich den Chef in seinem Büro aufsuchen und fand ihn, schwer nach Atem ringend, an seinem Schreibtisch. Seine Lippen waren bläulich, er hielt eine Hand auf die Herzseite gepresst.

Unverzüglich rief ich den Buchhalter, und zusammen trugen wir den Chef zu seinem Wagen. Ich konnte fahren, hatte es bei der Wahrmacht gelernt, und brauste mit Vanderoe zum Marienkrankenhaus.

Er überlebte den Herzinfarkt, aber von da an hatte ich eine bevorzugte Stellung, was gar nicht meine Absicht gewesen war. Nun, wie auch immer – wenig später lud er mich zu einem privaten Essen mit seiner Familie in sein Haus ein. Dort lernte ich auch seine Frau und seine einzige Tochter Maria kennen, eine hübsche, wenngleich auch gehbehinderte Brünette, zwei Jahre älter als ich. Wie mir Vanderoe – übrigens gebürtiger Norweger, der als Kind mit seiner Familie nach Deutschland gekommen war und den ich bald Karl nennen durfte – später erzählte, war ich ihm sofort sympathisch gewesen als die Art eines jungen Mannes, den er sich immer zum Sohn gewünscht hätte. Nicht, dass er seine Tochter nicht geliebt hätte – im Gegenteil erfüllte er ihr jeden Wunsch. Und er bemerkte schnell genug, dass sie sich zu mir hingezogen fühlte. Ihr Erröten, ihre offensichtliche Freude bei meinen Besuchen verrieten es ja nur zu deutlich. Für mich war sie ein nettes Mädchen – mehr nicht. Ein freundliches, ruhiges Geschöpf, wenn ohne den Charme, den unerklärlichen Zauber Annelies, doch auf ihre Art ein liebes Wesen. Und so kam es denn, dass ihre Eltern mich regelmäßig einluden. Ich fühlte mich einerseits geschmeichelt, andererseits in einiger Verlegenheit, wollte ich doch vermeiden, dass sie sich falsche Hoffnungen machte. Aber ich mochte auch ihre Eltern nicht kränken.

Mehr aus Verzweiflung – denn ich hatte zwar durch den Suchdienst nachforschen lassen, jedoch bislang nichts gehört vom Verbleib der Anneliese Feldmann – und auch aus Dankbarkeit gegenüber Karl Vanderoe und dessen Frau Lore, fand ich mich schließlich bereit, Maria zu heiraten, in einer schlichten Zeremonie.

Als ich endlich die Nachricht bekam, Annelie lebe noch, und zwar in Braunschweig, war es zu spät, denn Maria erwartete ein Kind, und ich brachte es nicht fertig, sie und ihre wirklich sehr liebenswürdigen Eltern zu verlassen. Möglicherweise war Annelie ja auch selbst nicht mehr frei; ich würde dann nur in ihr neues Leben einbrechen. Vielleicht hatte sie sogar ihr Studium aufgenommen, natürlich, als Tochter aus gutem Hause, und sicher einen respektablen Mann gefunden, der ihr etwas bieten konnte – keinen armen Kerl wie mich. Ob sie wohl noch dachte an unseren einstigen Sommer, als wir gleichsam auf dem Kamm der Welle gewesen waren, unsere Liebe – oder hatte sie mich ganz und gar vergessen? Ich wollte mir das nicht vorstellen, es schmerzte zu sehr; und doch kam der Gedanke wieder und wieder.

Ablenkung fand ich einzig in meiner Arbeit. So lebte ich denn mein Leben, meine leidliche Ehe. Für Maria war ich der erste Mann gewesen; auf ihre stille, verhaltene Weise liebte sie mich, und sie war gut zu mir. Nie gab sie mir ein böses Wort. In ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter schien sie vollkommen aufzugehen, darum achtete ich sie; sie jemals zu verletzen, wäre mir unmöglich gewesen. Was vor ihr gewesen war, davon musste sie also auch nichts wissen. Das ging nur mich allein etwas an.

Denn Annelie konnte ich nicht vergessen ungeachtet der Zeit. Dabei besaß ich nichts von ihr als ein kleines Foto, das sie mir damals geschenkt und auf dessen Rückseite sie in ungelenken Buchstaben geschrieben hatte. „Man ist einmal nur verliebt und verschenkt damit sein ganzes Leben – alles andere ist Liebelei, ist nur Torheit und geht schnell vorbei.“ Ich trug es immer bei mir.

Nein, ansonsten konnte ich mich nicht beklagen; mein Schwiegervater machte mich zu seinem Teilhaber, wir bezogen unser eigenes Haus, uns allen ging es gut, besser als den meisten. Auch nach dem Krieg kamen wir schnell wieder auf die Beine. Und obwohl mir verschiedene Frauen schöne Augen machten – denn, wie ich sagen darf, war ich ein ansehnlicher Mann – habe ich Maria nie betrogen – jedenfalls nicht körperlich. Unter den gegebenen Umständen tat ich mein Bestes. Vielleicht ahnte sie, dass ich nicht mit dem Herzen bei ihr war. Frauen haben ein Gespür für solche Dinge. Manchmal, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, sah ich tiefe Traurigkeit in ihrem Gesicht, und dann schämte ich mich, versuchte, ihr mit kleinen Geschenken eine Freude zu machen. Ein Fläschchen Lavendelwasser, ein schöner Stoff; sie war eine geschickte Schneiderin und nähte sich gern etwas.

Dann, mit 73, erlitt sie einen Schlaganfall. Fast zehn Jahre lang pflegte ich sie, bis sie starb. Wir wuchsen dadurch zusammen, sie war auf so demütige Weise dankbar, dass ich tiefes Erbarmen fühlte – zuweilen dachte ich, dies könne meine Art von Liebe für sie sein. Wenn ich auch niemals mehr für sie aufgebracht hatte als Respekt und flüchtige Zärtlichkeit, war ich doch auch nie frei gewesen von Schuldgefühl, was sie betraf. So aber blieb mir zumindest das Bewusstsein, wenigstens etwas wiedergutgemacht zu haben.

Schließlich stand ich allein. Meine einzige Tochter verbrachte fast all ihre Zeit in der Kirche oder mit der Pflege ihres schwerbehinderten Sohnes. Nur Sheeta, meine indische Haushälterin, kam jeden Tag, um die nötigsten Arbeiten zu verrichten, denn mir machte die Arthrose immer mehr zu schaffen , kaum, dass ich mein Hündchen, einen alten Spitz, noch einige Straßen weit ausführen konnte.

Mit 89 stellte mir mein Arzt die Diagnose Prostatakrebs. Es erschreckte mich nicht besonders, zumal er hinzusetzte, daran werde ich vermutlich sowieso nicht sterben. Aber mir lief die Zeit davon, Zeit, meine Angelegenheiten zu ordnen und, als das getan war, Antwort zu finden auf die noch immer brennende Frage: Was ist aus Annelie geworden? Wahrscheinlich lebte sie nicht mehr – und doch, ich konnte nicht gehen ohne einen letzten Blick auf sie und ihr Schicksal. Ich hoffte von ganzem Herzen, sie sei glücklich gewesen, habe eine neue Liebe gefunden – eine wunderbare Frau wie sie würde nicht allein geblieben sein.

So rief ich denn an beim Einwohnermeldeamt in Braunschweig. Ein Greis mit Sehnsucht nach seiner einstigen Flamme – – – lächerlich und wohl auch rührend, denn die Dame am Apparat ließ sich erweichen und gab mir die Adresse von Annelies Sohn, der am Ort lebte.

Sofort schrieb ich ihm, gab ihm meine Nummer, mit der Bitte um Kontakt. Tatsächlich erhielt ich seinen Anruf bereits drei Tage später. Ein freundlicher Mann, der mir zögernd meine Fragen beantwortete. Ja, Annelie hatte geheiratet. Es gab noch zwei Geschwister. Ja, sie sei recht zufrieden gewesen mit ihrem Mann, bis sie mit 58 Jahren plötzlich gestorben war. Nun – und der Glückliche – sicher doch ein Titelträger mit gutem Beruf? Nein, nur Verkäufer in einem Haushaltswarengeschäft.

Wie bitte? Aber sie selbst – ihr Studium? Welches Studium? Mutter hatte doch nur zwei Jahre lang ein Lyzeum besucht, ehe sie Dienstmädchen wurde, um die Familie zu unterstützen, weil der Vater ständig arbeitslos gewesen war. Danach habe sie zwei Jahre im Landdienst verbracht, in einer Wollspinnerei, einem Eisenwerk gearbeitet, und schließlich habe sie sich, achtzehnjährig, zur Wehrmacht gemeldet, dort in Ansbach und Bayreuth Lehrgänge absolviert als Fernsprecherin, Fernschreiberin, war später dann, soweit er wusste, in Paris zur Funkerin ausgebildet worden.

Mir fiel beinahe der Telefonhörer aus der Hand. Warum hatte mich Annelie derart belogen? Mir, einem einfachen Soldaten, selbst nur aus kleinsten Verhältnissen stammend, hätte sie doch die Wahrheit sagen, Vertrauen haben können, sich auszusprechen über ihre offenbar triste Jugend, ihre Armut. Ich hätte sie verstanden, sie nur umso inniger geliebt! Warum hatte sie sich verschlossen vor mir? Hatte ich sie denn überhaupt gekannt? Das fragte ich mich nach siebzig Jahren zum ersten Mal. Gekannt – ja – wie auch? In diesen nicht einmal drei Wochen, die uns damals vergönnt gewesen waren. Beinahe mein ganzes Leben lang war mir diese Liebe mein heimlicher Schatz gewesen, ein stilles Feuer, mich daran zu wärmen, doch vielleicht auch nur wie das Licht eines längst erloschenen Sterns.

Ernüchtert bedankte ich mich und legte auf. Alter Narr, sagte ich mir, Fein hat sie dich verschaukelt. Aber wenigstens war sie wohl einigermaßen durchs Leben gekommen. Nur das hatte ich noch wissen wollen.

Ich ging dann leicht hinüber. Nichts hielt mich mehr. Alles war abgetan, selbst mein Hündchen hatte ich begraben. Und hier bin ich nun im ewigen Licht, wo es keine Täuschung, keine Lüge mehr gibt. Und ich sehe. Ich weiß.

All diese Männer, wer nennt ihre Namen – für Geld, für Alkohol –  sechs Kinder, sechs Väter –  im Rausch erstickt am eigenen Erbrochenen – mein Mädel, meine Annelie – warum? Wer warst du? Man ist einmal nur verliebt. – Aber ich kannte dich nicht – es ist zu spät.

Die große Liebe  – – – die große Illusion.

Lebe wohl.