© by Michaela Lipp

Falten und Narben, Spuren des Lebens.

 

Vieles habe ich erlebt in Laufe meines Lebens. Enttäuschungen und Verrat, ich wurde selbst zum Verräter und habe auch Menschen, die mir wichtig waren, enttäuscht.

In meiner Jugend war nicht immer alles rosig, es waren Zeiten des Sparens und des Entbehrens. Meine Eltern erwarben sich ein eigenes Haus, sparten wo es nur ging. Mit Fischzucht, Haustieren und einem Gemüsegarten wurde das Einkaufen auf das Notwendigste reduziert. Sparen war mir also kein Fremdwort. Manchmal wünschte ich mir auch eine Wrangler Jeans, wie meine Klassenkameradinnen, aber ich bekam eine namenlose Jeans für ein paar Mark im Ausverkauf, wenn es denn schon eine neue sein sollte. Ansonsten war Upcycling angesagt, also Resteverwertung. An sich ist das nichts Verwerfliches, doch für mich als Teenager – naja. Heutzutage wäre es ja modern, auch wenn es meiner Meinung nach nicht immer besser aussieht.

 

Als ich mit dreizehn meinem Freund begegnete, sollte alles anders werden. Wir heirateten fast 10 Jahre später, bekamen zwei wunderbare Söhne, und auch hier gab es nicht immer schöne Tage. Wir sparten lange, bauten ein großes Haus und arbeiteten beide. Schon damals hatte ich Depressionen. Ich musste mich oft zwingen, meine Arbeit zu erledigen. Nachdem ich von meinen Eltern immer erlebt habe, dass Krankheiten sichtbar sein müssen, zwang ich mich jeden Tag, alles zu erledigen. Im Winter, wenn es gar nicht mehr ging, ließ ich mir heimlich Tabletten verschreiben, im Sommer braucht man so etwas nicht. So war die Meinung aller Menschen um mich herum. Ich quälte mich oft zum Leben.

 

Dann kam die Zeit, wo die Luft raus war. Wo ich aufgab, nicht mehr kämpfen wollte. Nicht weiter kämpfen wollte um Aufmerksamkeit und Liebe meiner Eltern, die mir eh immer erspart wurde.

Nicht mehr kämpfen wollte um die Aufmerksamkeit und die Liebe meines Ehemannes. Ich wollte begehrt werden, wollte, dass Zeit und Verständnis mir entgegengebracht wurden. Aber was passierte? Nichts. Ich bettelte unter Tränen, und ich bekam von den beiden Seiten, die mir damals am wichtigsten waren, zu hören: „Was willst du denn? Du hast doch alles!“

Aber ich hatte nicht alles, ich wollte wieder eine Person sein. Nicht nur Ehefrau von Ehemann, Mutter von Kindern, Tochter von Eltern, Verkäuferin von Brot und Torten. Ich wollte mehr, oder wollte ich weniger?

Ich bettelte und wurde abgewiesen.

Dann kam es, wie es kommen musste, ich verliebte mich in einen anderen. Wobei, war es Liebe oder war es doch nur Flucht?

Ein verheirateter Mann wurde mein Geliebter. Wir trafen uns heimlich, hatten oft und viel Sex, und ich fühlte mich wieder begehrt. Ob er mich geliebt hat, weiß ich nicht. Aber er liebte meinen Körper, da war ich mir sicher. Mein Ehemann erwischte mich und er warf mich aus seinem Haus raus. Mir zog es den Boden unter den Füßen weg. Ich hatte keinen Halt mehr, keine Sicherheit. Ich wollte nur noch weg. Weg von allem. Ich war das erste Mal im Leben so verzweifelt, dass ich nicht mehr an meine Kinder dachte, sondern nur noch an mich. Ich stopfte mich mit Tabletten voll mit allem was ich fand und weinte dabei fürchterlich. Ich fand mich am nächsten Abend im Ehebett wieder. Mein damaliger Mann hatte mich in der Nacht gefunden und ins Ehebett gesteckt. Er hatte mich ausgenüchtert, und ich sollte mich fangen. Mein Hilfeschrei wurde nicht richtig gehört.

 

Wunden!

 

Ich ging ein paar Wochen später freiwillig das erste Mal für zwei Wochen in die Klinik. Nervenklinik. Von dort aus suchte ich mir eine Wohnung, baute mir ein Leben alleine auf. Es zerriss mich, als die Kinder bei ihrem Vater bleiben wollten. Mein älterer Sohn war böse auf mich, der wollte nichts mit mir zu tun haben. Der jüngere war dann auch lieber zuhause, dort wo der Bruder, der Vater, die Katze und die Großeltern waren. Meine Eltern machten mir Vorwürfe: Warum ich alles zerstört habe. Jeder hackte auf mir herum.

Ja, dann war ich in meiner eigenen Wohnung. Das erste Mal, dass ich nur für mich wohnte, lebte, Wunden leckte. Ich ging zur Arbeit und zum Arzt. Regelmäßig. Es wurde Winter, wieder Depressionen, ich wurde müde. Schlief jeden Tag bis zu 16 Stunden. fünf Stunden Teilzeit-Arbeit pro Tag. Drei Stunden zum Leben. Dazwischen kamen noch die Stunden, die mein Liebhaber mit mir verbrachte. Ich war müde, zu müde zum Essen, ich kochte nichts mehr, und ich merkte, es ging nicht so weiter. Mit den Kindern und den Eltern hatte ich keinen Kontakt mehr.

 

Wunden

 

Ich weinte so oft, wie nie zuvor. Ich sprach mit meiner Ärztin, und sie sorgte dafür, dass ich in die Klinik kam. Dieses Mal für drei Monate. Zwei Monate stationär und ein Monat ambulant mit Wiedereingliederung in die Arbeit. Acht Stunden Schlaf hatte ich jetzt wieder. Ich aß meistens in der Klinik, weil mir sonst das Geld fehlte. Das Krankengeld für eine Frau, die nur fünf Stunden am Tag arbeitete, war sehr gering.

 

Aber ich verliebte mich neu. Dieses Mal in jemanden aus der Klinik. Auch ein kranker Mensch. Es wurde immer gewarnt, dass so etwas passieren könnte und dass es nicht gut war. Ich war in meiner gerade positiven Stimmung nicht bereit, das zu akzeptieren. Er durfte zu mir ziehen, und ich hatte jemanden, um den ich mich kümmern durfte.

Ich arbeitete, unterstützte den Mann mit all meinen Kräften. Mein früherer Liebhaber war natürlich ärgerlich und bedrohte mich, nein uns. Der neue Mann an meiner Seite hatte natürlich jede Menge Probleme. Diese regelten wir zusammen, ich half ihm, seine Schulden abzubauen, seine Wohnung aufzulösen und wieder auf die Beine zu kommen. Er wohnte bei mir, und ich schuftete wieder für andere. Aber ich fühlte das nicht. Sein Ziel war, bevor er mich kennengelernt hatte, in ein betreutes Wohnen zu kommen. Es war ihm wichtiger, seinen Jahrestag des alkoholfreien Lebens zu feiern, als unsere erste Zeit zu erleben. Nun kam der Umzug in sein Betreutes Wohnen, und ich war wieder alleine. Fiel wieder in ein Loch. Setzte mich in mein Auto, stand vor dem Main und überlegte, hineinzufahren. Doch dann dachte ich, was wäre das für eine Umweltverschmutzung. Ich fuhr nach Hause.

 

Wunden.

 

Wieder sah ich mich nicht mehr aus dem Loch kommen. Wieder war ich bodenlos, haltlos. Ich saß zuhause, jetzt wollte ich Nägel mit Köpfen machen. Ich nahm nicht nur Tabletten, ich schnitt mir die Pulsadern auf. Der neue Mann, der in seinem betreuten Wohnen war, nahm gerade an diesem Tag, Kontakt mit mir auf, obwohl er Verbot hatte, Menschen von außen zu kontaktieren. Er rief mich also an, und ich verabschiedete mich von ihm mit langsamer Zunge. Die Tabletten wirkten schon, der Blutverlust auch. Die Oleander Stücke, die ich gegessen hatte, würgten mich. So bitter waren sie, trotz Honig, den ich drüber geträufelt hatte. Ich legte auf, wollte sterben, ich hatte Brechreiz, übergab mich.

Lag am Boden in meinen Mageninhalt, Blut um mich herum. Es klingelte irgendwann an der Tür, klopfte, es schrien Menschen, ein Arzt war da, Rettungssanitäter, die mich verbanden. Man zog mir ein neues Shirt an und brachte mich ins Krankenhaus. Dieses Mal in die Intensivstation. Man band mich ans Bett, in meinem Hals steckte ein Stück Schlauch, meine Arme waren verbunden.

Dort war ein Pfleger, der mich aufs Äußerste beschimpfte. Er sagte, dass ich kranken Menschen den Platz und die Aufmerksamkeit der Pfleger wegnahm. Er verstand nicht, dass ich krank war. Ach weh, es ging mir nicht gut, aber es war mir egal, ich wollte sterben. Noch immer. Als meine Nieren wieder fit waren und meine äußeren Wunden etwas abgeheilt, kam ich in die geschlossene Station in die Nervenklinik. In mir drinnen war alles egal, eigentlich nicht mehr wichtig. Nichts war mehr wichtig. Ich war tot.

 

Mit Wunden.

 

Mein Geburtstag im Sommer war traurig, ich bekam ein Duschgel und einen Waschlappen von den Pflegern dort, aber ich trauerte. Musste lernen, mich zu lieben. Ach wisst ihr, wie schwer das ist?

Wenn man sich selber hasst, wenn man sich selbst zerstören will, wenn man nicht mehr leben will. Es waren wieder Monate, in denen ich so an mir zweifelte, aber auch an den anderen. Wollten die wirklich mir Gutes tun, oder taten sie nur das, was sie tun mussten?

Ich traute keinem mehr. Wollte mich immer weiter abgrenzen, obwohl doch gerade ich die kommunikative Frau war. Jedes Mal, wenn der (jetzt Ex-) Mann mich besuchte, was eh nur sehr selten war, weinte ich, weil ich merkte, was ich alles verloren hatte. Er besuchte mich einmal, nein zwei Mal dort in den zwei Monaten in dieser Abteilung. Dann sagte er mir am Telefon, dass er mich nicht mehr besuchen wollte, weil er mein Weinen nicht aushielt.

 

Wieder Wunden.

Auch er kam nicht mehr, meine Kinder auch nicht. Meine Eltern habe ich nicht sehen wollen, sie standen nicht hinter mir, sondern nur hinter dem Exmann. Er war doch der liebere Sohn, so wie der Erstgeborene in dieser Familie. Auch das wurde mir immer klarer.

Ach jetzt wurde es wirklich schwer. Ich hatte jetzt auch finanzielle Probleme, mein kleines Polster war aufgebraucht, ich bekam 470 Euro Krankengeld, davon hatte ich 420 Euro im Monat Festkosten. Jetzt war ich wirklich über jedes Essen, über jede Zuwendung dankbar.

Wie soll man jemanden wie mich lieben können? Ich soll mich lieben?

Es war nicht einfach, jeder Tag war anstrengend. Ich durfte wieder in ein anderes Haus in der Klinik. Dort konnte ich wieder rausgehen. In die Sonne. Manchmal saß ich am See und schaute hinein.

Es brach immer mehr aus mir heraus, was ich als Kind erlebt hatte.  Jetzt drängten alte Erlebnisse wieder an die Oberfläche. (Noch heute steigt ein mulmiges Gefühl hoch, wenn ich Alkohol Atem rieche.) Die Schutzmauern, die ich mir einst als Kind gebaut hatte, waren jetzt so niedrig, dass längst verdrängte Erinnerungen wieder bewusst wurden.

 

Wunden, die unsichtbar aber total schmerzhaft sind.

 

Ich war so empfindsam, so krank und sollte gesund werden, mit all dem, was ich erlebt hatte. Jetzt aber sollte ich in die Zukunft sehen, wieder leben wollen. Ich durfte nach Hause, wieder waren vier Monate um. Und ich war eine Zeitlang alleine, aber mein alter Liebhaber wollte sich sein liebstes Spielzeug nicht nehmen lassen, er bedrohte mich, stieg in meine Wohnung ein, brach das Fenster auf, belauerte mich. Ich war ängstlich. Wusste mir nicht mehr zu helfen.

 

Wunden – Spuren.

 

Ich hatte oft nur noch Kontakt über den PC nach draußen, so lernte ich auch Willi kennen. Natürlich hatte ich auch andere Männer kennengelernt. Doch das war alles nicht mehr wichtig. Willi war mein Freund. Er war mein Vertrauter. Ich wusste, er hatte drei Kinder, war verheiratet und glücklich. Opa war er auch schon.

Er war schon auf Wohnungssuche und getrennt von seiner Familie, als er fragte: „Willst du mich nicht doch kennenlernen?“

 

Ja, jetzt habe ich mein Glück gefunden. Fast neun Jahre bin ich mit Willi zusammen, und viele meiner Wunden sind geheilt. Narben habe ich immer noch, auch Falten inzwischen.

Aber sie zeugen von meinem Leben.

Meine Lebens-Spuren!