© by Wine van Velzen

 

 Menschen hinterlassen ihre Spuren

 Silas, der Waldheiler

 Wie an jedem Abend stand Silas oben auf der Bergwiese. Über eine Stunde benötigte er um den Wald zu durchqueren und hinaufzulaufen. Tief im Dickicht versteckt, bewohnte er eine kleine Holzhütte. Den Menschen blieb sie verborgen, da sie mit einem Zauberspruch geschützt war. Silas gehörte zu den wenigen Waldzwergen, dessen Aufgabe es war, die Natur zu schützen. Er brachte die Pilze zum Wachsen, ließ die Bäume mit Efeu umschlingen, achtete, dass alles wuchs und gedieh und doch reichte seine Arbeit bei Weitem nicht aus. Von Jahr zu Jahr erkrankte der Wald immer mehr. Die Arbeit im Wald war nicht mehr zu bewältigen, und der kleine Heiler fiel jede Nacht völlig erschöpft in sein Bett. Denn auch die Tiere kamen zu ihm, wenn sie sich verletzt hatten. Silas sammelte dann Kräuter, stellte heilende Pasten und Tränke her und pflegte sie gesund.

 *

 Silas blickte zum Horizont, bis der letzte Sonnenstrahl verschwand. Dann schloss er traurig den gelben Schirm. Wieder hatte er ergebnislos gewartet und gehofft. Wie lange musste er die ganze Arbeit im Wald noch alleine schaffen? Die Waldfee Nala hatte ihn besucht, als der Schnee zu tauen begann. Sie wusste von den Tieren, wie viel Mühe es Silas bereitete den Wald zu schützen und dass er alle Tiere heilte, die zu ihm kamen. Sie versprach, einen Helfer zu schicken, der Silas zur Hand gehen würde.

»Gehe hinauf zur Bergwiese und spähe zum Horizont, bis die Sonne untergeht. Von dort wird ein Helfer kommen und dir ein Freund werden«, hatte sie ihm erklärt.

Silas freute sich sehr darüber. Er dachte, dass dieser Fremde bald da sein würde, um ihn zu unterstützen. Von da an ging er jeden Tag zur Bergwiese hinauf, um nach Sonnenuntergang wieder traurig umzukehren.

 *

 Der Frühling hatte Einzug gehalten. Überall blühte und sprießte es, und Silas begann mit seiner Arbeit lange bevor die Sonne aufging. Die Knochen taten ihm weh, Blasen und Schwielen an den Händen schmerzten. Die Tiere sahen mit Besorgnis, dass ihr kleiner Waldheiler immer schwächer wurde. Jeden Tag begleiteten sie ihn bis zum Waldrand und warteten auf ihn, bis er enttäuscht und traurig zurückkam.

 Gerade, als Silas den Schirm schloss und den langen, dicken Umhang um sich wickelte, sah er aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Er kniff die Augen zusammen und starrte auf einen bunten Fleck, der langsam größer wurde. Bald konnte er einen lustigen Gesang hören, der lauter wurde. Gebannt sah Silas dem bunten Fleck zu, den er immer besser erkennen konnte.

 Es war ein drahtiges Männlein mit feuerroten, zerzausten Haaren, dessen Jacke bunte Federn schmückte. Die Hose schien aus grünen Blättern zu sein. Das bunte Männchen hatte einen braunen Rucksack um und einen Wanderstab in der Hand. Als er zu Silas hinaufsah, winkte er ihm freundlich zu und stieß einen trillernden Pfiff aus, der die Vögel aufschreckte. Auch die Tiere am Waldrand hatten den Gesang und das Pfeifen gehört. Unruhig liefen sie auf und ab und sahen neugierig zur Bergwiese hinauf.

*

 Der bunt schillernde Wandersmann reichte dem verblüfften Silas die Hand.

»Ich heiße Farnso«, stellte er sich dem kleinen Waldheiler vor. »Ich habe einen sehr langen Weg hinter mir und wollte eigentlich viel früher bei dir sein. Ich wurde auf der Wanderschaft immer wieder aufgehalten, um Tiere zu heilen und auch der Natur zu helfen, wenn die Menschen auf ihr herumtrampelten. Du glaubst ja gar nicht, wie unbesonnen sie sind. Überall hinterlassen sie Schmutz und Unrat. Sie zerstören die Wälder, legen Flussbette um und es schert sie nicht, wie die Natur damit klarkommen soll

 Farnso hatte sich richtig in Fahrt geredet, und Silas sah erstaunt, wie der bunte Wanderer aufgeregt hin und her hopste. Er war einen Kopf größer als Silas, aber dünn wie eine Bohnenstange. Das rote Haar fiel in zerzausten Locken in seine Stirn, die Nase war schmal und lang. Obwohl Farnso sich über die Menschen aufregte, saß der Schalk in seinen Augen. Silas bemerkte, dass er den bunten Vogel mochte.

»Hat dich die Waldfee ausgeschickt, damit du zu mir kommst?«, fragte er neugierig und hoffte, dass Farnso ja sagte.

Der grinste den Heiler an und kratzte sich am Kopf. »Ich habe den Auftrag von meinem Vater bekommen. Du musst wissen, wir leben in kleinen Dörfern im Dickicht, aber auch in der Nähe der Felder, Flüsse und Wiesen. Vater hatte einen Traum, in dem eine Waldfee erschien und ihn bat, seinen jüngsten Sohn auf die Wanderschaft zu schicken. Sie würde ihm den Weg weisen, damit er sein Ziel unbeschadet erreichte.« Silas dankte im Stillen der Waldfee. Jetzt verstand er auch, warum er so viele Male umsonst auf der Bergwiese stand und den Horizont beobachtet hatte. Der bunte, lustige Farnso hatte auf der langen Reise den Tieren und der Natur geholfen, deshalb kam er erst heute bei ihm an.

 Gemeinsam gingen sie den Hügel hinab zum Waldrand, und Silas erzählte Farnso was für Aufgaben ihn erwarten. Die Tiere beschnupperten den Fremden, der ihnen über das Fell strich und leise versprach, sie zu schützen.

Silas war überglücklich. Endlich hatte er einen Freund an seiner Seite, der mit ihm den Wald und dessen Bewohner hegte und pflegte.

 Die Waldfee sah, dass es immer mehr zu tun gab, da die Menschen vieles zerstörten, und versprach den beiden, dass noch mehr Helfer kommen würden. Deshalb standen jetzt jeden Tag bevor die Sonne unterging, Silas und Farnso auf der Bergwiese und blickten zum Horizont. Nach und nach kamen andere und schon bald schmiegten sich neue Hütten an die von Silas. Gemeinsam nahmen sie den Kampf auf, und langsam konnte man sehen und erkennen, dass die Natur sich erholte. Zumindest war das in dem Wald so, in dem Silas und andere Waldheiler und Zwerge arbeiteten.

 Was die Menschen zerstörten, ohne darüber nachzudenken, war grausam anzusehen. Jeder Baum, der von ihnen gefällt wurde, jeder Unrat, der im Wald liegen blieb, verursachte bei den Tieren und den Helfern eine tiefe Traurigkeit. Die Menschen hinterließen ihre folgeschweren Spuren auf diesem Planeten. Sie verseuchten die Meere, nahmen Tiere ihren Lebensraum, rodeten ganze Wälder und häuften bergeweise Unrat an. Wie lange unser Silas und Farnso ihren Wald noch schützen können, weiß vielleicht nur die Waldfee. Die ist bereits sehr wütend und zornig und berät zur Stunde mit Mutter Natur, wie sie die Menschen aufhalten können.

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