© by Wilhelm Maria Lipp

Vom Leben gezeichnet

 Heute habe ich wieder so einen Menschen gesehen. Eine Frau, die sichtlich schon lange auf dieser Welt ihr Leben meistert.

Sie ist groß, so etwa 175 cm groß, aber durch ihre vorgeneigte Körperhaltung scheint sie etwas kleiner zu sein. Was muss sie gearbeitet haben, wie oft war sie wohl mit ihren Händen irgendwo am Boden, dass sich ihr Rücken dermaßen krümmt. Möglicherweise aber hatte sie auch einen Garten, in dem sie Gemüse für ihre Familie gepflanzt hat und natürlich Blumen. Vielleicht hat sie auf Feldern gearbeitet, hat Bauern bei der Erntearbeit geholfen, oder ist sie vielleicht selber Bäuerin gewesen? – Jedenfalls ist deutlich, dass diese gebückte Haltung ihr nicht mehr weggehen wird.

 Ich bin selber groß, viele meinen, mit meinen 193 Zentimetern ich sei sehr groß. So weiß ich, wie anstrengend es ist, wenn man gebückt am Boden arbeiten muss. Wie froh bin ich, dass ich mit halbwegs geradem Rücken durchs Leben gehen kann.

 Aber noch deutlicher als an ihrer Körperhaltung erkennt man die Lebensumstände der Frau an ihrem Gesicht. Wie viele Falten durchziehen das Antlitz dieser Frau. Sie muss über 80 Jahre alt sein. Falte neben Falte zeichnete das Leben in ihr Gesicht.

Da gibt es die Kummerfalten. Wenn man die genauer anschaut, muss man sich fragen, wieviel Ärgernisse sie wohl im Laufe ihres Lebens überwinden musste. Sie hat sicher noch die Auswirkungen des letzten Weltkriegs erlebt. Ist sie überhaupt eine gebürtige Österreicherin, oder ist sie wegen den Kriegswirren in einem unserer Nachbarländer zu uns geflüchtet, hat sich zu uns retten können?

Hat sie Kinder überlebt? Haben solche Verluste die Abdrücke in ihrem Gesicht hinterlassen? Wer weiß. Die Sorgenfalten auf der Stirne geben jedenfalls Zeugnis über Kummer. Vielleicht hat sie auch ihren Partner früh verloren und musste alleine für sich und die Familie sorgen.

 Dass das Leben diese Frau aber nicht gebrochen hat, dass es auch viel Spaß in ihrem Leben gegeben hat, das verraten uns die Lachfältchen an ihren Augen. Wie schön ist denn das, wenn man auch diese Zeichen sehen darf. Gezeichnet vielleicht durch glückliche Momente mit einem Partner, oder mit Kindern, oder Momente mit lieben Haustieren, wer weiß es schon. Ansprechen werde ich sie nicht, ich beobachte nur und mache mir so meine Gedanken. Trotz aller Falten, trotz einem ereignisreichen und sicher anstrengenden Leben sehe ich in ihr eine schöne Frau. Wunderschön für ihr Alter, schön, gediegen, ehrlich.

 Wie viele Frauen gibt es, die diese sympathischen Zeichen des Lebens, also die diese Falten irgendwie vertuschen ob mit Botox, das sie sich spritzen lassen, oder mit Tiramisu, das von innen glättet, oder durch Hautstraffung. Heute habe ich eine schöne Frau gesehen, eine Frau, die lebt und gelebt hat. Ein wunderbarer, ehrlicher Moment. Danke dafür.