© by Claudia Dvoracek-Iby

SMARAGDA

 Es gab einmal ein reiches, prachtvolles Städtchen, dessen Bewohner in Häusern aus reinem Kristall lebten. Sie schmückten diese mit Edelsteinen und erbauten Straßen, Brücken und Mauern aus feinstem Marmor. Viele Gesetze mussten zur Errichtung und Erhaltung dieser wertvollen Bauten beschlossen und eingehalten werden.

Eines dieser Gesetze untersagte den Stadtbewohnern, laut zu lachen, zu jubeln und zu singen; ebenso durften sie nicht schreien, weinen und streiten, um damit die Gefahr, dass Kostbares zerbreche, zu bannen.

Aus diesem Grund war auch das Halten von Nutz- und Haustieren verboten, und da Bäume, Blumen und Gras irgendwann nur mehr vereinzelt und störend zwischen den glanzvollen Gebäuden sprießten, einigten sich die Stadtbewohner schließlich darauf, gänzlich auf Natur zu verzichten.

Sie arbeiteten viel und hart und fanden das gut so, denn wer ständig arbeitet, dem bietet sich kaum Gelegenheit zum Lachen oder Streiten. So wurde von früh bis spät geschliffen, geputzt, jedes noch so kleine Steinchen auf Hochglanz poliert – angetrieben vom Ehrgeiz, einen vollkommen reinen, einen perfekten Ort zu erschaffen.

Eine meterhohe, aus winzigen Mosaiken erbaute Stadtmauer, an der Tag für Tag gearbeitet wurde, hielt Fremde davon ab, in das Städtchen zu gelangen. Denn selbstverständlich waren keine Besucher erlaubt, da sie doch nur beim Arbeiten stören oder gar etwas zerbrechen würden.

In der Mitte der Stadt prangte ein mächtiges Gebäude aus Bergkristall. Eine große Silberglocke hing über der Eingangstür. Kreisförmig um das Kristallhaus angeordnet erstrahlten in unterschiedlichen Farben die Häuser der Stadtbewohner.

In einem davon, einem lindgrün schimmernden Haus, lebte Smaragda. Links neben ihr befand sich Azuros tiefblaues Zuhause, zu ihrer Rechten funkelte in hellem Rot Rubinas Heim. Schneeweiße Mauern trennten Haus von Haus. Hinter jedem der Häuser erstreckte sich ein kleiner Garten aus Marmor, in dessen Mitte sich ein riesengroßer Edelstein, auf welchem man bequem liegen oder sitzen konnte, befand.

Ja, auch das war Gesetz: Jeder Stadtbewohner musste gleich viel besitzen: Ein Haus, einen Marmorgarten und einen Liegestein in der ihm zugeteilten Farbe. So wurde Neid, somit Streit und in weiterer Folge der Bruch von Kostbarkeiten vermieden.

 

Eines Morgens putzte Smaragda wie jeden Tag nach dem Aufstehen ihr lindgrünes Haus, bis es glänzte. Sie wusch den grünen Marmorboden ihres Gartens und polierte wie immer zum Schluss sorgfältig ihren Liege-Smaragd in der Mitte des Gärtchens.

Plötzlich schob sich der schwere Stein wie durch Zauberhand zur Seite und Smaragda erblickte in der Mulde, in der er gelegen hatte, etwas schier Unglaubliches: Sie sah grünes Gras und wundersame Blumen, die einen süßen Duft verströmten. Nie zuvor hatte Smaragda Gras und Blumen gesehen. Sie staunte, berührte vorsichtig die zarten Halme und Blüten, atmete tief ihren Duft ein und konnte sich nicht satt sehen. Doch dann läutete wie jeden Tag um diese Zeit die Silberglocke, welche die Stadtbewohner zur Arbeit rief.

Smaragda erschrak und dachte:

‚Wenn die anderen erfahren, dass in meinem Garten die lieblichsten Blumen wachsen, werden sie mich zwingen, alles zu entfernen.‘

Und schnell schob sie den Smaragd über das Stück Natur in der Mulde ihres Marmorgartens. Der Stein wurde sogleich wieder schwer und unbeweglich und Smaragda dachte traurig, dass sie sich alles nur eingebildet habe.

Eilig lief sie zum Kristallhaus, wo sich alle Stadtbewohner wie jeden Morgen zur Arbeit trafen. Unterwegs begann sie plötzlich entsetzlich zu frieren. Als sie ihre Nachbarn sah, sagte sie: „Azuro, Rubina, mir ist so schrecklich kalt.“

Die beiden antworteten: „Uns geht es ebenso. Wir müssen uns wohl daran gewöhnen.“

Mehr konnten sie nicht miteinander reden, weil sie rasch beginnen mussten, die vielen, kleinen Mosaiksteine der Stadtmauer wieder einzusetzen, die über Nacht herausgefallen waren. Sie arbeiteten bis zum späten Abend.

 

Am nächsten Morgen war alles wie immer, außer dass Smaragda nach wie vor entsetzlich fror, woran sie sich jedoch schon gewöhnt hatte.

Sie putzte ihr lindgrünes Haus, bis es glänzte, und wusch ihren Marmorgarten. Dann polierte sie gründlich ihren Liegestein und wieder ließ er sich ganz leicht zur Seite schieben.

Smaragda hielt den Atem an, als sie sah, was sich in der Vertiefung, die ihr Stein freigab, befand. Da saß ein kleines, schneeweißes Kätzchen und blickte sie aus tiefblauen Augen an. Smaragda schien es, noch nie etwas so Liebes, so Reizendes gesehen zu haben. Sie streichelte es behutsam, und als das Kätzchen schnurrte und sein Köpfchen in ihre Hand schmiegte, klopfte Smaragdas Herz vor Entzücken.

Da ertönte die Silberglocke und Smaragda erschrak.

‚Was mache ich bloß?‘ dachte sie. ‚Wenn die anderen von dem Kätzchen erfahren, werden sie mich zwingen, es zu verjagen oder gar, es zu töten.‘

Schweren Herzens schob Smaragda ihren Liegestein über die Mulde mit dem weißen Kätzchen. Wieder wurde er unbeweglich und Smaragda dachte seufzend, dass sie sich dies alles nur erträumt hatte.

Eilig lief sie zum Kristallhaus. Unterwegs bemerkte sie, dass die Umgebung ihre Farbenpracht verlor. Anstatt sonnengelb, ziegelrot, meeresblau sah Smaragda alles grau in grau.

„Azuro, Rubina, ich kann keine Farben mehr sehen!“ klagte sie, als sie die anderen sah.

Die beiden antworteten: „Uns geht es ebenso. Wir müssen uns wohl daran gewöhnen.“

Mehr Zeit zu reden hatten sie nicht, denn viele, kleine Mosaiksteine der Stadtmauer, die über Nacht herausgefallen waren, mussten wieder eingefügt werden. Sie arbeiteten bis zur späten Stunde.

 

Am Morgen danach war alles wie immer, außer dass Smaragda nach wie vor entsetzlich fror und alles um sie herum in Grau sah, woran sie sich jedoch schon gewöhnt hatte.

Sie putzte ihr graues Häuschen, bis es glänzte, und wusch ihren grauen Marmorgarten. Als sie behutsam ihren grauen Stein polierte, ließ er sich wieder leicht zur Seite schieben.

Da saßen zwei Kinder in der Grube, über der sich der Stein befunden hatte, und winkten Smaragda fröhlich zu. Sie lachten, warfen einander einen kleinen Ball zu, und hatten sichtlich Spaß und Freude. Smaragda spürte ihr Herz laut klopfen. Nie zuvor hatte sie Kinder gesehen, die miteinander spielten und lachten, noch konnte sie sich erinnern, dies selbst einmal getan zu haben.

Als die Silberglocke läutete, erschrak Smaragda.

‚Wenn die anderen erfahren,‘ dachte sie, ‚dass in meinem Garten fremde, fröhliche Kinder sind, werden sie mich zwingen, sie zu verjagen und sie aus unserer Stadt verbannen.‘

Und schnell schob Smaragda den grauen Stein über die Grube mit den beiden Kindern, der sofort wieder bleischwer wurde.

Smaragda dachte betrübt, dass ihr wohl wieder einmal ihre Fantasie einen Streich gespielt hatte, und sie lief zum Kristallhaus.

Als sie die anderen grüßen wollte, merkte sie zu ihrem Entsetzen, dass sie nicht mehr sprechen konnte. Kein Ton kam aus ihrem Mund, so sehr sie sich auch anstrengte. Und da las sie in Rubinas und Azuros Augen:

‚Uns geht es ebenso. Wir müssen uns wohl daran gewöhnen.‘

Hastig machten sie sich daran, die vielen, kleinen Mosaiksteine der Stadtmauer wieder einzusetzen, welche über Nacht herausgefallen waren. Sie arbeiteten bis in die Nacht hinein.

 

Am nächsten Morgen, als Smaragda erwachte, war alles wie immer, außer dass sie nach wie vor entsetzlich fror, alles Grau in Grau sah und stumm war, woran sie sich jedoch schon gewöhnt hatte.

Sie putzte ihr graues Häuschen, bis es glänzte, und wusch den grauen Marmorboden. Zuletzt polierte sie ordentlich ihren grauen Smaragd. Wieder ließ er sich ohne Anstrengung zur Seite schieben. Smaragda sah – sie konnte es nicht glauben – Smaragda sah – nichts, nichts, nur grauen Marmorboden.

Da wurde sie sehr traurig und dann wütend wie nie zuvor. Sie wollte schreien vor Wut, aber es kam ja kein Ton aus ihrer Kehle und das machte sie noch wütender, als sie ohnehin schon war.

Sie umfing mit beiden Armen ihren grauen Smaragd, hob ihn hoch und warf ihn mit aller Kraft zu Boden. Der Stein zerschmetterte in tausend Teile und kleine Smaragde flogen empor, hoch empor, über alle Mauern hinweg. Da zersprang auch etwas tief in Smaragdas Inneren, gab ihre Stimme wieder frei, ließ sie ihre Augen schließen und schreien, schreien so laut sie konnte.

Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, dass der Marmorteppich unter ihr zersprungen war, sah, dass sie auf weichem, grünem Gras stand, welches üppig zwischen den Bruchstücken wuchs, sah Blumen, Sträucher, Bäume in den herrlichsten Farben wachsen. Sie sah, dass die Mauern zwischen ihr, Azuro und Rubina eingestürzt waren, sah staunend, dass sich die beiden ebenso wie sie inmitten bunter Stein- und Glasscherben befanden, zwischen denen es mehr und mehr zu grünen und zu blühen begann.

Da begriff Smaragda, dass es ihnen allen gleich ergangen war. Sie alle hatten ihre Wünsche und Sehnsüchte voreinander und unter ihren jeweiligen Steinen versteckt. Jeder hatte jedem und sich selbst misstraut.

Die drei gingen aufeinander zu und umarmten einander, das erste Mal in ihrem Leben, und es wurde ihnen warm ums Herz. Die anderen Stadtbewohner kamen, sie alle staunten, lachten und weinten miteinander. Das weiße Kätzchen sprang hinter einem Strauch hervor und schmiegte sich an Smaragdas Beine. Smaragda lachte glücklich, als sie auch die zwei Kinder erblickte, die um einen prächtigen Kirschbaum liefen.

Und während sie alle miteinander redeten, einander zuhörten und Vertrauen zueinander fassten; während sie ihre Blumen gossen und die Tiere fütterten und mit den Kindern spielten, läutete und läutete die Silberglocke ungehört und fiel schließlich zu Boden. Sie zerbrach und winzige Kristalle stoben in die Luft.

Während der nächsten Tage wurden das Kristallhaus, die Stadtmauer und die Marmorböden abgetragen, die Kristalle und Edelsteine wurden auf der ganzen Welt verteilt.

Viele, viele Menschen besuchen seitdem das blühende Städtchen, dessen Bewohner bekannt sind für ihre Herzlichkeit und Gastfreundschaft, dafür, dass sie sich Zeit nehmen, um miteinander zu reden und zu lachen und zu streiten und sich wieder zu versöhnen.