© by Wolfgang N. Kraus

 

Steine

Soeben hatte er eine Arbeit fertig gestellt und sein Werk zufrieden betrachtet, da begann in dem jungen Steinmetz schon wieder diese Unruhe zu nagen, die ihn zu erfüllen pflegte, wenn sich eine neue Idee in seinem Kopf breit zu machen begann. Unruh wurde er deshalb von allen im Dorf genannt, so selbstverständlich, dass sogar er seinen ursprünglichen Namen bereits vergessen hatte. Tatsächlich wollte es ihm wieder nicht gelingen, von der schweren Arbeit auszuruhen, und so machte er sich auf, einen passenden Stein für sein neues Projekt zu suchen. Er hatte eine sehr konkrete Vorstellung und die Fähigkeit, das fertige Stück schon im rohen Stein zu erkennen, von dem er dann lediglich das überschüssige Material wegstemmen und abschleifen würde. Jetzt galt es nur, einen passenden Rohling zu finden.

Sein Ziel war eine Höhle im Wald, an deren Eingang er schon so manches Mal fündig geworden war, doch als er sie endlich erreicht hatte, musste auch der junge Unruh ein wenig verschnaufen. Er setzte sich also auf einen Stein und zog ein Stück Brot aus seiner Tasche, das ihm nun die nötige Stärkung spenden sollte. Doch während er kauend seinen Blick durch den Wald streifen ließ, vernahm er ein seltsames Schnaufen, das durchaus bedrohlich klang und immer näher zu kommen schien. Er drehte sich also zur Höhle und erschrak derart, dass er wie versteinert unfähig war, sich zu bewegen. Er blickte in die hässliche Fratze einer Kreatur, aus deren Nüstern Rauch aufstieg, der für dieses Geräusch verantwortlich war. Hinter vorgehaltener Hand erzählte man sich im Dorf von einem Drachen, der in der Höhle wohnen sollte, doch Unruh hatte das stets als dummes Geschwätz abgetan, war er doch schon öfter an jenem Platz gewesen ohne dieser Bestie gewahr zu werden. Nun aber war es soweit, das Untier richtete sich drohend auf, schnaubte und fixierte sein Opfer mit seinen rot glühenden Augen. Angesichts der Gefahr löste sich Unruhs steinerne Schwere. Geschickt und mit kaum wahrnehmbaren Bewegungen holte er seine Schleuder aus der Tasche und tastete nach einem passenden Stein. Dann legte er an, spannte sie mit aller Kraft, zielte kurz und ließ los. Der Stein schoss mit ungeheurer Wucht in eine der Nüstern des Monsters, das sich unter den Schmerzen aufbäumte und schließlich benommen niederstürzte. Unruh sprang beherzt auf und einen Stein nach dem anderen schleuderte er gegen den Kopf des Drachen, bis dieser endlich kein Lebenszeichen mehr von sich gab.

Erleichtert ob des glücklichen Ausgangs dieses ungleichen Kampfes fiel Unruh ein Stein vom Herzen. Und schnell hatte er ebendiesen Stein im Brett des Königs. Denn als die Kunde an dessen Ohren drang, bot er dem jungen Steinmetz an, seine Tochter zur Frau zu nehmen. Eine Ehre, zweifellos. Und steinreich würde er sein. Dazu war die Königstochter auch durchaus attraktiv. Doch ein Leben am Hof konnte er sich in keiner Weise vorstellen. Das hölzerne Gehabe steifer Gestalten, die nach Regeln leben mussten, die vor Ewigkeiten festgelegt und seither offenbar in Stein gemeißelt waren, schreckte ihn zu sehr ab. Doch als der junge Mann sich beim König für dessen Angebot bedankte, es aber doch ablehnte, versteinerte sich die Miene des Regenten, der mit einem Mal steinalt wirkte. So wurde der Stein im Brett zum Stein des Anstoßes, man verwies Unruh des Landes und er musste Stein und Bein schwören, niemals wieder zurück zu kommen.

Unglücklich über diese Wendung, aber dennoch mit der Sicherheit, richtig entschieden zu haben, machte sich der junge Mann auf zu einer Reise, die ihn über Stock und Stein führen sollte.

Doch nach einer Weile tat dem König seine Entscheidung leid. Den Stein ins Rollen gebracht hatte seine Tochter mit der Erinnerung, dass er doch kein Herz aus Stein habe. Schließlich sei sie nie gefragt worden, ob Sie den jungen Mann auch liebe.
„Denn das, liebster Vater, tue ich nämlich nicht. Und, bei allem Respekt für seine Heldentat, eine standesgemäße Partie ist der junge Steinmetz ebenso wenig. Es wird euch also kein Stein aus der Krone fallen, wenn ihr versuchen wolltet, ihn zurück zu holen und auf andere Art für sein Werk zu entlohnen.“
Die Worte seiner Tochter und ihr Augenaufschlag, der Steine erweichen hätte können, verfehlten ihre Wirkung nicht. Also schickte der König Männer aus, die buchstäblich jeden Stein im Land umdrehten, um den Verstoßenen zu finden. Was schließlich auch gelang. Unter einem Baum unweit der Landesgrenze lag der junge Mann und schlief wie ein Stein. Man sprach ihn an, aber ohne Erfolg. Doch sie probierten es wieder und wieder, denn steter Tropfen höhlt den Stein, und schließlich wurde Unruh munter.
„Wir sollen dich zurück zum König bringen. Er hat dir noch etwas mitzuteilen“, sagte einer mit steinerner Miene und ein anderer ergänzte heiter zur Beruhigung: „Aber ich glaube, es sind gute Nachrichten.“

Zwei Tage später betrat Unruh den Audienzsaal im Schloss. Er musste nur kurz warten, bis der König eintrat und zu ihm sagte:
„Mein lieber Freund, ich freue mich, dass du wieder hier bist. Denn unsere Geschichte liegt mir wie ein Stein im Magen – das ist nicht gut. Als Lohn für deine Heldentat wollte ich dir meine Tochter vermählen und deine Ablehnung hat mich sehr gekränkt. Aber ich habe nachgedacht und an deiner Begründung ist wohl auch Wahres dran. Denn auch ich fühle mich hier nicht immer wohl, leide am Korsett der Regeln, doch habe ich den Stein der Weisen noch nicht gefunden, wie ich etwas ändern könnte.“
„Oh, Majestät, da hätte ich einige Ideen“, antwortete der Bursche leichthin.
„Du mögest es versuchen. Aber ich fürchte, es wird ein steiniger Weg.“
„Ach, ich bin jung und unbekümmert und stecke voller Ideen. Nicht umsonst nennt man mich Unruh.“

So kam es, dass durch den Stein – dem Helden vom Herz gefallen und von der Königstochter ins Rollen gebracht – im Leben des jungen Mannes und der Adeligen am Hof kein Stein auf dem anderen blieb.