© by Wilhelm Maria Lipp

Steine sammeln

 Meine damalige Frau, auch eine Lehrerin an derselben Schule, sammelte Steine. Überall, wo wir waren, wurde ein Stein ausgesucht, eingepackt und nach Hause mitgenommen. Das sollte man wissen, damit die folgende Begebenheit im richtigen Licht erscheint.

 Mit einigen Klassen meiner Schule waren ein paar Kolleg/innen und ich unterwegs. Sommersportwoche war angesagt. Die Kinder hatten sich für unterschiedliche Sportkurse angemeldet, die sie tagsüber besuchten. Am Abend gab es sportliche Aktivitäten beim Quartier. Als halbwegs passabler Tischtennisspieler beaufsichtigte ich dann regelmäßig unsere Schüler im Tischtennisraum im Keller.

 Mein Outfit tagsüber war ein Trainingsanzug bzw. einfache Sportbekleidung, und wenn wir unterwegs waren, hatte ich einen ehemals weißen Schlapphut auf, der mich vor den heißen Sonnenstrahlen einigermaßen beschützte. Trendige Sonnenbrille, Markengewand war nicht meins. Mein weißer Hut war allgemein bekannt, er war mein „Markenzeichen“.

 In diesem Quartier war noch ein Sommersportkurs einer zweiten Schule untergebracht. Es war eine Sportschule, und dementsprechend waren die Schüler/innen und die Begleitpersonen. Siegertypen, Egoisten. Ich als offensichtlich unsportlicher Lehrer war ein rotes Tuch für so manchem gestylten Sportlehrer der zweiten Schule. Vor allem deren Leiter hatte es schwer mit mir, als ich ihm beim Tischtennis einen Satz abnahm, als er also gegen mich nicht so überragend gewinnen konnte, wie er selbst es gedacht hatte und wie es seine Schüler erwartet hatten.

Das wurmte ihn sehr, gegen mich zu verlieren. Er ließ sich auch auf keinen zweiten Versuch ein.

 Wieder einmal war ich als Aufsicht beim Tischtennisspielen, nachdem ich zuvor mit einer Gruppe unserer Schüler eine kleine Wanderung unternommen hatte. Dabei hatte ich auch einen wie eine Kugel geformten Stein entdeckt, den ich der Sammlung meiner Frau hinzufügen wollte. Er war etwa so groß wie ein Kinderkopf, beinahe rund, mit zwei Dellen, die man sich als Augen vorstellen konnte. Auch die Adern, die den Stein durchzogen, hatten einen ganz besonderen Reiz. Ich wollte ihn also mitbringen. Aber diesen Stein konnte ich nicht in meine Hosentasche stecken. Ich brauchte Hilfe. Ich legte ihn in meinen Schlapphut, so konnte der Stein ganz gut getragen werden. Meine Schüler, die meine Frau ja kannten, halfen mir und trugen ihn abwechselnd.

Da wir ziemlich knapp zum Abendessen kamen, keine Zeit mehr war auf die Zimmer zu gehen und wir danach sowieso Tischtennis spielen wollten, deponierten wir den Stein im Hut im Tischtennisraum. Allerdings lag er nun dort unter dem Hut, sodass man den Stein nicht sah. Neben einer Säule lag nun dieser Stein, sodass er den Spielern nicht im Weg war.

Als ich von den Kindern aufgefordert wurde, mich beim Spielen anzuschließen, spielte ich gerne mit. Den Stein wollte ich hinterher mit in mein Zimmer nehmen. Ich hatte ihn im Blickfeld, es konnte nichts passieren. Mit den Buben spielte ich rund um den Tisch. Alle standen hintereinander, jeder, der gerade den Ball gespielt hatte, musste rasch auf die andere Seite und sich dort wieder anstellen. Wer einen Fehler machte, schied aus. Am Ende spielten die letzten beiden „Überlebenden“ einen ganzen Satz zur Entscheidung. Wir mussten viel laufen und hatten viel Spaß.

 Es dauerte ein wenig, dann kamen auch Kinder der anderen Schule in den Raum. Sie hatten zuvor noch ein intensiveres Trainingsprogramm gehabt und nach dem Essen eine Besprechung mit ihren Lehrern.

Ihr Sportwochenleiter war auch dabei. Im Augenwinkel beobachtete ich neben meinem Spieleinsatz, wie er meinen Schlapphut am Boden sah, sich im Raum umblickte und mit Genuss meinem Hut einen Fußtritt gab. Danach sahen es alle, denn er hatte sich seine Zehen ordentlich am darunterliegenden Stein verstaucht und jammerte fürchterlich und wollte von allen Schülern und Kolleg/innen entsprechend bedauert werden. Ich allerdings hatte kein Mitleid mit ihm. Wenn ich es gewollt hätte, hätte ich so eine Falle nicht besser aufbauen können.

Die Tage danach waren ohne große Reibereien, denn der Kollege musste sich schonen und blieb meistens im Speisesaal oder in seinem Zimmer.

Meine Frau freute sich über den neuen Stein und gab ihm einen Ehrenplatz zwischen all den anderen Schmucksteinen in ihrem Garten.