© by Wilhelm Maria Lipp

Über Stock und Stein

 „Komm raus!“, hörte ich von der Straße her. Na ja, Straße war es noch nicht, es war ein etwas befestigter Weg, eine sogenannte Sandstraße. Durch die harten Reifen der Lastwagen und Traktoren, die zu den Neubauten Material lieferten oder daran vorbei zu den Feldern fuhren verfestigte Steinböden. Diese Fahrzeuge verursachten auch viele Schlaglöcher, sodass man achtgeben musste. Wie schnell machte man da einen Fehltritt und hatte angeschlagene Knochen, Verstauchungen, Prellungen. Oder wenn es geregnet hatte, die Straße als ebene nasse Fläche vor einem lag, dann passierte es immer wieder, dass man in so ein Loch trat und nasse Hosenbeine bekam. Wir Kinder aber liebten die Zeit nach dem Regen, zogen unsere Gummistiefel an und hüpften mit Spaß in gerade diese Löcher. So spritzten wir die Umgebung voll Leidenschaft an. Eine wunderbare Abwechslung für uns, für die Erwachsenen allerdings Grund zum Schimpfen.

 „Komm, doch raus!“, klang es noch einige Male, bis Mama es endlich erlaubte. Ich schnappte ihr Fahrrad und eilte zu den wartenden Buben aus der Nachbarschaft. Es war toll für mich, gleichsam eine Ehre, wenn mich diese beiden älteren Buben zum Spielen abholen wollten. Meistens war ich mit meinen Schwestern und den drei mit uns gleichaltrigen Nachbarskindern zusammen. Ganz selten durfte ich mit diesen älteren anderen Buben mit.

Aber wenn, dann spielten wir bei den Baumhütten in den Kopfweiden neben dem Mühlbach, oder sie zeigten mir, wie man Drachen baute und diese fliegen lässt. Es waren eben ältere Buben, die schon mehr konnten und durften als ich. Und sie waren nicht so behütet wie meine fünf Schwestern und ich. Sie trafen sich jeden Tag im Freien. Wir alle lebten in einer relativ neuen Siedlung, die zwischen der Pielach, das ist ein Nebenfluss der Donau, und einem Werkskanal, dem Mühlbach, lag. Unsere Häuser standen am Rand dieser Siedlung, wo man schon die angrenzenden Äcker sah und das nahe Augebiet. Also ein idealer Platz für Kinder, die sich frei bewegen durften. Wie gerne wäre ich öfter mit diesen älteren Buben dabei gewesen, aber meistens musste ich mit meinen Schwestern sein. Die Eltern meinten zwar, ich solle mit denen spielen, aber ich glaube, sie wollten, dass ich auf die jüngeren Schwestern eben aufpasste.

 Aber heute war es wieder so weit, ich durfte hinaus, durfte spielen, durfte Kind sein ohne Verantwortung für andere zu tragen. Diesmal war Radfahren angesagt. Die beiden hatten schon jeder ein Rad mit einer Gangschaltung, ich radelte mit dem Rad meiner Mutter. Wir spielten „Zug“. Das Rad meiner Mutter hatte die beste Übersetzung, und wenn ich ordentlich in die Pedale trat, konnte ich mit den beiden Gangrädern mithalten, ja sie sogar überholen. Somit war ich der Schnellzug. Bald überholte ich die anderen und setzte mich an die Spitze. Es ging in der Siedlung um einen Block von Einfamilienhäusern herum. Einige Runden drehten wir. Zu Beginn waren wir etwa gleichauf, bis ich dann „aufdrehte“, das bedeutete, ich trat stehend in die Pedale, um mehr Geschwindigkeit zu erhalten. Die anderen beiden versuchten mich einzuholen, aber ich, der jüngste von uns, war und blieb an der Spitze. Allerdings machte mich diese Wettfahrt auch unaufmerksam. Man musste schon sehr achtsam fahren, um den Schlaglöchern auszuweichen. Auch wegen der Schotterung der Straße rutschten gerne unsere Räder. Das wussten wir, und damit kamen wir meistens zurecht. Aber als ich mich wieder einmal in die Linkskurve hineinlegte, damit ich in die Seitenstraße einbiegen konnte, schmierte mein Hinterrad weg. Solche Situationen hatte ich früher schon gemeistert, die Geschwindigkeit durch rasches Bremsen reduziert, aber diesmal war ich zu sehr versessen aufs Gewinnen. Na ja, ich war etwa acht Jahre alt, zu schwach, um das schleudernde Fahrrad noch einmal unter Kontrolle zu bringen und konnte den Sturz nicht vermeiden.

 Tat das weh! Die Knie, die Ellenbogen, die Beine und Arme, das Gesicht, alle meine unbedeckten Körperteile waren aufgeschürft, ich hatte einen „Schotterausschlag“. Aber am meisten schmerzte mich mein Mund. Ich hatte schon ein paar zweite Zähne, das heißt die Schneidezähne oben und unten waren schon vom Dauergebiss. Aber einer dieser Zähne war nun abgebrochen. Es fehlte eine Ecke meines linken oberen Schneidezahns.

Ich weinte fürchterlich, nahm das Rad und schob es nach Hause. Gottseidank war es nicht kaputt geworden, nur etwas abgekratzt.

Mama hörte mein Klagen schon von weitem, eilte heraus, sah die Katastrophe und fragte mich, wo das geschehen sei. Dann nahm sie mich auf den Gepäckträger des Rades und fuhr mit mir zur Unfallstelle. Dort suchten wir nach der herausgeschlagenen Ecke des Zahnes. Erfolglos! Wie hatte sie sich das vorgestellt, denke ich heute, dass wir das kleine Eck meines Zahnes zwischen den Kieselsteinen der Straße finden könnten? Da hätte mein Zahn magnetisch sein müssen und wir mit einem Zahnmagneten suchen müssen. Und auch da wäre ein Finden des kleinen Eckchens kaum möglich gewesen. Wurde doch rundherum gebaut und gerade an der Unfallstelle war auch ein Schotterhaufen eines Nachbarn deponiert, der demnächst zu Beton verarbeitet werden sollte. Auch, dass die beiden Buben beim Suchen dabei waren, half nichts. Und was wäre gewesen, wenn wir doch Erfolg gehabt hätten? – Ich weiß es bis heute nicht.

Unverrichteter Dinge kehrten wir nach Hause zurück. Es war klar, ich musste zum Zahnarzt.

Damals hatten wir noch kein Telefon. Mama bat die Nachbarin auf meine Schwestern zu schauen, packte mich wieder hinten aufs Rad und fuhr mit mir zum Dentisten. Unser Zahnarzt war erst vor kurzem im Himalaya verschollen. Seither kümmerte sich ein Dentist um die Zahngesundheit im Dorf.

Der Dentist belehrte mich zuerst über die Gefahren und über das Zähneputzen, dann bastelte er für mich ein Provisorium, das nach der Pubertät durch eine Krone ersetzt werden sollte.

Sehr lange hatte ich nun, wenn ich lachte, ein deutlich sichtbares, eingepasstes Eck auf meinem Schneidezahn. So sehr sich der Dentist damals auch bemüht hatte, dass die Farbschattierung des Provisoriums zum jungen Zahn passte, und wie sehr ich mich auch durch tägliches Zähneputzen anstrengte, meine Zähne sauber zu halten, so entwickelte sich der Zahn weiter, das neue Eck behielt seine Farbe.

Eine Krone aber war relativ teuer. Wir waren eine große Familie mit sechs Kindern, der Vater Alleinverdiener. Da war es wirklich toll, dass dieses Provisorium so gut gemacht war, dass ich den Zahn erst mit etwa 45 Jahren richtig reparieren lassen musste, als ich es mir selber leisten konnte.

Ja, und das war nach der Pubertät, wie der Dentist es angekündigt hatte.