© by Michaela Lipp

Unter dem Stein

 Gestatten, dass ich mich vorstelle? Mein Name ist Egon. Ich bin ein Porcellius Scarber. Also eine Kellerassel. Der Name kommt aus dem lateinischen und asellus bedeutet Eselchen.

Ich wohne hier unter meinem Stein. Nicht nur ich wohne hier, sondern meine ganze große Familie, wobei wir ja eigentlich einige Steine unterwohnen. Die Menschen würden Dorf dazu sagen mit Großfamilien. Und es leben noch andere Tiere hier: Regenwürmer, Spinnen und Käfer. Ein besonderes Erlebnis möchte ich euch erzählen:

Immer wieder kommen Menschen und spielen mit den Steinen. Das passiert ja mal und ist nicht so schlimm. Bei den Menschen kommen auch manchmal welche, die anderen ihre Häuser wegnehmen.

Doch seit neuestem … aber hört selbst: 

Ich wache auf, als ich neben mir jemanden leise stöhnen höre. Mein Freund Fridolin, der ein Regenwurm ist, liegt neben mir und ist komisch rot gefärbt und verkrümmt. Es ist hell hier, und die Sonne scheint uns ins Gesicht. Die Sonne? Ich schrecke auf und reiße meine Augen auf. Hier unter dem Stein scheint doch keine Sonne. Unser Stein ist weg, unser Zuhause. Und Fridolin liegt im Sonnenschein und stirbt. Er vertrocknet, und dann ist er tot und ich kann nie wieder mit ihm spielen. Ich schreie laut auf, und die Familie wird wach. Wir organisieren gleich eine Rettung. Friedolin bekommt sofort ein Erdloch gegraben und wird hineingezogen. Etwas feuchte Erde drauf, damit er sich erholt. Wir schauen, wo unser Stein ist. Doch der ist weg! Ich steige an einem Felsen hinauf. Wie gerne würden wir unter dem Felsen leben, aber noch haben wir keine Ahnung, wie das klappen könnte. Er ist zu schwer und drückt immer nach unten. Wenn sich einer von uns darunter traut, kommt er nie wieder hervor. Aber hinauf auf den Felsen können wir steigen.

Da kann ich das ganze Ausmaß der Katastrophe erkennen: Alle Steine sind verbaut als Türme. Ja, lauter Steintürme sehe ich. Und die Tiere rundherum haben alle keine Heimat mehr. Menschen haben aus den Steinen solche Berge und Türme gebaut, wie ihre eigenen Großstädte aussehen. Selber mögen sie ihre Städte nicht so gerne und alle möchten aufs Dorf ziehen, aber bei uns bauen sie so etwas. Wieder steige ich vom Felsen herunter. Ich will mir so einen Turm ansehen, ihn besteigen. Viele von uns sind schon auf die Türme gestiegen. Sie finden die zerquetschten Verwandten, zu mindestens Teile davon. Ich höre manche Freunde weinen. Auch ich steige auf so einen Turm und finde bald unseren Wohn-Stein. Traurig streichle ich ihn, er ist zwischen anderen Steinen eingeklemmt, und nie wieder kann man dazwischen leben. Klar, vielleicht die Ohrenkäfer oder Spinnen, aber wir? … Unsere Heimat ist zerstört.

Mensch, du zerstörst unsere Heimat, weißt du das?

Nur ganz wenige Steine liegen noch herum. Darunter drängen sich schon alle möglichen Tiere, denen die Sonne schadet. Vor allem die Würmer, die so schnell austrocknen.

Ich schaue nach Fridolin, krieche in die weiche Erde. „Wie geht es dir?“, frage ich ihn. Er schaut mich traurig an: „Ich werde ein Stück meines Körpers verlieren, weil er nicht mehr zu retten ist. Aber ich lebe, das ist das Wichtigste. Danke dass ihr euch um mich gekümmert habt.“

Dann steige ich wieder nach oben. Ich bin recht ratlos, da meint mein alter Onkel: „Wir werden doch am Felsen wohnen, den kann der Mensch nicht wegtragen.“

Also krabbeln wir hin und schauen uns um, ob wir eine Stelle finden, wo wir wohnen können. Auf diese Idee kommen aber nicht nur wir. Es wird eng werden, hier zu wohnen. Aber wir rutschen enger zusammen. Menschen, ihr habt unser Zuhause zerstört, ist das euch bewusst?

Und am Nachmittag holen wir Fridolin, für ihn haben wir ein Stück feuchte Erde gefunden, die den ganzen Tag im Schatten bleibt.

„Mensch, diese Steintürme sind nicht schön! Lasst es sein! Ich bin Egon, die Kellerassel und bitte um unsere Zukunft!“