© by Renate Lind

Vater, lieber Vater

 Jeder Mensch braucht einen Vater. Und wenn er ihn nicht vom Beginn seines Lebens an hat, so wird er irgendwann einmal anfangen zu suchen. Und sei es auch nur aus dem einzigen Grund, ein kleines Stück Identität zu finden, das immer gefehlt hat.

Und sollten auch noch so viele Schläge, die das Schicksal auszuteilen hat, diese Absicht überlagern, es bleibt ganz tief und ganz bestimmt die Überzeugung: Ich werde ihn finden.

Nun sind meine Kinder erwachsen, und ich lebe in einer Partnerschaft in der Toleranz etwas sehr Wichtiges ist. In mein Leben ist Ruhe eingekehrt. Aber immer vehementer macht sich die Absicht ihn zu finden, dieses Recht seine Wurzeln zu kennen, bemerkbar.

Denn auf der Landkarte meines Lebens war der Begriff „Vater“ ein großer weißer Fleck.

Dass der Mann, der mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit verprügelte, nicht mein Vater war, fand ich schon sehr früh heraus. Und so bedrängte und bestürmte ich meine Mutter, es mir doch zu sagen, wer war mein Vater??

In allen Papieren und Dokumenten stöberte ich herum. Ich durchsuchte heimlich alle Handtaschen und Schubladen.

Endlich fand ich eine Geburtsurkunde auf der stand, dass mein Familienname auf einer Namensgebung beruht.

Also doch, dachte ich, jetzt wird sie es mir sagen müssen. Aber Mutters ohnehin schon etwas herbes Gesicht verhärtete sich nur noch mehr. Unwillig schüttelte sie ihren Kopf. „Lass mich damit in Ruhe!“, sagte sie, „das geht dich nichts an!“ Aber mit meinem hartnäckigen Drängen und mit der Beharrlichkeit einer vierzehnjährigen habe ich dann doch den Namen, den Beruf und das Herkunftsland meines Vaters erfahren, denn ich war immer überzeugt davon, dass es mich sehr wohl etwas anginge.

Einen schönen adeligen Namen hatte er, er war Kommandant eines Zeppelins, und er stammte aus dem, für mich damals unerreichbar fernen Lettland.

Diese spärlichen Informationen boten natürlich genug Nahrung für die romantischen Träume eines Teenagers.

Und nun Vater, nachdem ich sechzig Jahre auf dieser Welt bin, nachdem viele vergebliche Briefe an Suchkarteien geschrieben wurden, ist es gelungen. Eine winzige Anzeige in einem deutschen Massenblatt machte es möglich.

Ich habe dich gefunden.

Und nicht nur dich, sondern als Draufgabe sozusagen, auch meine Schwester, deine Tochter Ingrid. Es war ein sehr bewegender Augenblick als wir uns das erste Mal begegneten. Wir haben viel über dich gesprochen und es ist für mich etwas sehr Kostbares zu wissen, dass es sie gibt. Denn sie ist ein Stück von dir, und in irgendeiner Form warst du wohl auch bei uns, bei deinen Töchtern, von deren einen Existenz du keine Ahnung hattest.

Ich habe mir mein ganzes Leben so intensiv gewünscht zu wissen, wie du ausgesehen hast, dass es fast schon wehgetan hat. Und dann war alles ganz einfach. „Natürlich schicke ich dir ein Bild“, sagte meine Schwester am Telefon. Niemals vorher in meinem Leben habe ich sehnlicher auf den Briefträger gewartet. Zwei Tage später steckte ein großes braunes Kuvert im Briefkasten.

Mit nervösen, zitternden Händen reiße ich es auf.

Warme, ernste Augen schauen mir aus einem Gesicht entgegen, das mir seltsam bekannt vorkommt.

„Wieso kommt er mir so bekannt vor?“, fragte ich meine Tochter, „ich habe ihn doch nie vorher gesehen?“

„Schau doch einfach in den Spiegel, dann weißt du es“, sagte sie.

Was für ein Augenblick!

Ich versenke mich in dein Gesicht. Mit dem Zeigefinger ziehe ich die Linien nach, die auch in meinem Gesicht zu finden sind, behutsam streiche ich über deine Lippen, meinen großen breiten Mund habe ich eindeutig von dir.

Jetzt kann ich mir vorstellen wie es gewesen wäre, an deiner Hand durch die nordischen Wälder zu streifen, oder den langen glitzernden Wellen der Ostsee nach zu laufen, oder im Winter an einem warmen Ofen zu sitzen, deine Stimme zu hören, die mir eine Geschichte erzählt. Eine Geschichte von einer langen Reise, in einem glänzenden Zeppelin in ferne fremde Länder.

All diese Träume meiner Kindheit haben jetzt ein Gesicht.

Deines.

Meine Schwester hat mir einige Fotos geschickt. Eines davon, es war schon ein wenig vergilbt, zeigte einen frischen Grabhügel in Polen.

Gefallen am 3. Nov. 1942 stand darauf.

Es ist eines der schrecklichsten, brutalsten und grausamsten Gesetze dieser Welt, dass Väter in einem Krieg viel zu jung sterben.

Und doch ist es jetzt erträglicher für mich geworden, denn ich sehe dein Gesicht, Tag für Tag.

Meine Sehnsucht nach dir war groß, und ich bin traurig über deinen frühen Tod, aber ich begreife wieder einmal die Zerbrechlichkeit des Lebens.

Doch die Illusion deiner ewigen Jugend, die Illusion der strahlenden Wärme deiner Augen, lebt in mir, ist jetzt ganz wach und lebendig. So freue ich mich über dein kurzes wildes Leben. Du warst schön, Vater, und dein Gesicht scheint mir jetzt so vertraut, als würden wir uns schon sehr lange kennen.

Hattest du Vertrauen in das Leben, oder wusstest du um die Zerbrechlichkeit?

Zu viele Fragen bleiben offen zwischen uns.

 

Wenige Wochen später fuhr ich nach Hamburg. Meine Mutter lebt dort ihr kleines Stückchen Leben im 13. Stock eines Seniorenwohnheims. Dein Bild hatte ich im Gepäck.

Mit sehr gemischten Gefühlen sah ich ihrer Reaktion entgegen. Würde es wieder die alte, schroffe Ablehnung sein, die sie mir entgegenbringt, oder hat sie das Alter doch ein wenig zugänglicher und milder gestimmt?

Ich setzte mich ganz nah zu ihr und nahm ihre Hände. Ich erzählte ihr alles, von meinen Träumen, von meiner Sehnsucht, von meiner Suche.

Dann gab ich ihr dein Bild.

Es war unendlich schmerzlich und berührend zu sehen, mit welch behutsamer Zärtlichkeit sie diese Kopie eines Fotos in ihre faltigen, alten Hände nahm. Lange, lange betrachtete sie es. Ein paar winzige Tränen verliefen sich in ihrem Gesicht. Mit einem tiefen Seufzer sagte sie: „Ach weißt du, es ist wirklich schön, dass ich ihn noch einmal wiedersehe.“

Und nun, Vater, hängt dein Bild auch über ihrem Bett, und ich habe das Gefühl, dass sich ein Kreis geschlossen hat.

Und dass ich dazu beigetragen habe, dieses feine, wissende Lächeln in ihr Gesicht zu zaubern, darüber bin ich sehr glücklich.