© Michaela Lipp:
Wir lernten im Main schwimmen, hatten ein paar Gummiboote zum Aufblasen, einen großen Freundeskreis, Klassenkameraden. Ohne Kläranlage, da schwammen schon einmal Stücke unbekannter Herkunft neben einem vorbei, oder eine duftende Schaumwolke. Aufgrund des heftigen Schiffsverkehrs war der Main tief ausgebaggert. Natürlich durch die vielen Staustufen relativ ruhig. Im Winter gab es meist nur zwei Wochen Schifffahrtsruhe: Zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag. Selten war es sehr kalt, kaum Schnee, das Maintal ist gemäßigt. Ich kann mich auf einen Winter erinnern. 1987 oder 1988. Es war kalt, lange und bitter kalt. Wir erlebten etwas, was wohl nur alle 50 Jahre einmal passiert, der Main gefror zu.Wir waren jung und überlegten, wie schon andere, über den Main auf die andere Seite zu gehen. Die paar Meter übers Eis. Ich war so ängstlich. Das Eis knackte, schon bevor wir drauf traten. Vor uns waren Menschen, auch hinter uns. Es war am Nachmittag so gegen 16 Uhr. Es dunkelte, und das Eis knackte. Wenn jetzt etwas passiert, sind wir gleich tot. Nicht daran denken! Flotten Schrittes, soweit möglich, an der Hand meines damaligen Verlobten, ging es auf die andere Uferseite zu. Wir waren ja zu zweit und jung, was soll uns schon passieren? Dass wir zu zweit auch das doppelte Gewicht hatten, wie die anderen um uns herum, das bedachten wir nicht. Ich fühlte immer wieder leichte Bewegungen unter uns, oder ich bildete sie mir nur ein. Voll Herzklopfen, nassgeschwitzt trotz der Kälte kamen wir beide dann doch auf der anderen Uferseite an. Das knackende Eis hatten wir hinter uns gelassen, mir fiel ein Stein vom Herzen. Später gingen wir über die stabile Mainbrücke zurück. Ein zweites Mal wollte ich das nicht probieren, ich bin ein Angsthase. Im Winter 2012, als dieses Foto entstanden ist, stand ich wieder an einem zugefrorenen Fluss. Dieses Mal war es die Donau, und der Mann an meiner Hand war Willi. Wir standen da und hörten das Eis arbeiten. Ich gehe nicht aufs Eis. Ein Gedicht von Friederich Güll fällt mir dazu ein:

Gefroren hat es heuer noch gar kein festes Eis. Das Büblein steht am Weiher und spricht so zu sich leis: „Ich will es einmal wagen, Das Eis, es muß doch tragen.“ – Wer weiß? Das Büblein stampft und hacket mit seinem Stiefelein. Das Eis auf einmal knacket, und krach! Schon bricht’s hinein. Das Büblein platscht und krabbelt Als wie ein Krebs und zappelt Mit Schrein. „O helft, ich muss versinken in lauter Eis und Schnee! O helft, ich muss ertrinken im tiefen, tiefen See!“ Wär nicht ein Mann gekommen, Der sich ein Herz genommen, O weh! Der packt es bei dem Schopfe, und zieht es dann heraus: Vom Fuße bis zum Kopfe wie eine Wassermaus. Das Büblein hat getropfet, Der Vater hat’s geklopfet Zu Haus.

Nein, ich gehe nicht aufs Eis!