© by Eveline Buca

Boris, der „Panaxia quadri punktaria“

 Ich liebe das Meer! Ich liebe besonders jenes, das die Insel Rhodos umspült.

Ich liebe Schmetterlinge. Auf Rhodos ist ein eigenes Tal für sie reserviert.

Millionen dieser Nachtfalter bevölkern nur eine bestimmte Zeitspanne das Tal, weil sie sich an dem delikaten Harz der darin wachsenden Bäume laben. Danach ziehen sie wieder ihrer Wege. Der Besuch des Tals der Schmetterlinge ist ein langgehegter Wunsch von mir.

Und nicht zuletzt liebe ich die Satiren von Ephraim Kishon.

Wie passt das zusammen?

Kishon erzählt auf seine unverwechselbare Weise in seiner Geschichte „Boris, wo bist du?“ seinen Besuch im Tal der Schmetterlinge, der sich dadurch auszeichnete, dass sich kein einziger „Panaxia quadri punktaria“ zeigte. Nicht einmal besagter Boris, den der Reiseführer in der kleinen Höhle am Ende des Tales versprochen hatte!

 Diesen Sommer ist es soweit – ich besuche das Tal der Schmetterlinge, und somit beginnt mein Abenteuer mit Boris dem „Panaxia quadri punktaria“

 Als ich die Pforte, die in das Tal führt, durchschreite, erfasst mich ein mystischer Schauer.

Ich bleibe stehen und schaue um mich. Es ist früh am Morgen, die Besucher noch spärlich. Keiner von ihnen scheint den Schauer so wie ich zu spüren, alle eilen schnurstracks ins Tal hinein.

Plötzlich schwirrt lautlos ein Insekt um meinen Kopf herum, um sich dann auf dem kleinen Felsen vor mir niederzulassen. Ich kann es kaum fassen – es ist doch tatsächlich ein „panaxia quadri punktaria“. Im Fluge orange schimmernd, zeigt er in Ruhe seine schwarzen mit feinen gelblichweißen Linien durchzogenen Außenseiten der Flügel. Ich betrachte ihn beglückt, denke an Ephraim Kishon und bin selig, dass mich nicht dasselbe Schicksal ereilt, wie ihn anno dazumal.

„Gut, dass du endlich da bist“, meldet sich ein helles Stimmchen. „Wie bitte?“ entfährt es mir und ich schaue mich um, kann aber niemanden entdecken, der zu mir gesprochen haben könnte. „Jetzt schau nicht drein wie ein begossener Nachtfalter“, höre ich, „es ist niemand da außer dir und mir!“, klingt das Stimmchen schon ein wenig verärgert! „Außer wem und mir?“, frage ich zögernd. Der Schmetterling vor mir auf dem kleinen Felsen bewegt seine Flügel, und gleichzeitig vernehme ich wieder das Stimmchen: „Na hier, da auf dem Felsen – du Blindschmetterling!“ Ich empfinde es als ziemlich frech, von jemandem, der nicht in Erscheinung tritt, Blindschmetterling genannt zu werden: „Das lass ich mir wirklich nicht bieten…du…..du, ach, was weiß ich wer du bist – komm heraus du Feigling, zeig dich!“, brülle ich ins Tal der Schmetterlinge, welches mir sogleich das Echo zurückwirft „Feigling…zeig dich…!“ Darauf ist es mucksmäuschenstill! Die Aufregung lässt mich schwer atmen, und abermals werden meine Augen von dem kleinen Schmetterling vor mir auf dem Felsen angezogen. Er schlägt sanft mit den Flügeln, ohne abzuheben. Das Stimmchen ertönt erneut, exakt im gleichen Rhythmus der Flügelschläge des Schmetterlings: „Hallo, hast du dich wieder beruhigt? Ich bin es, hier unten auf dem Felsen. Ich bin Boris!“

„Nein, also wirklich“, denke ich, „da spielt mir die Hitze aber einen gewaltigen Streich!“

„Hat es dir jetzt die Sprache verschlagen? Schau her ich bin es, Boris, der Schmetterling!“

„Gut“, resümiere ich laut, „ich unterhalte mich also mit einem fünf Zentimeter großen Schmetterling! So muss es sich anfühlen, wenn man überschnappt! Es ist so – ich werde verrückt!“

„Ja, du unterhältst dich mit einem Schmetterling! Nein, du wirst nicht verrückt, aber es ist zum Verrücktwerden, wie lange du gebraucht hast, das zu kapieren!“

„Und warum unterhalte ausgerechnet ich mich mit einem Schmetterling?“, will ich wissen.

 

„Weil du die Einzige bist, die uns verstehen kann!“, sagt Boris. Es klingt traurig. Dennoch kann ich nicht abstreiten, dass ich mich durch seine Worte geschmeichelt fühle.

„Wie geht es jetzt weiter?“, frage ich Boris. „Bitte folge mir, du wirst bald wissen, worum es sich handelt!“, antwortet der Schmetterling.

Boris hebt ab und schwirrt voraus. Ich folge ihm, so gut ich es vermag. Diese Aufgabe wird zur Herausforderung, als sich immer mehr Brüder und Schwestern von Boris anschließen, um uns zu begleiten. Es herrscht bald ein nahezu undurchdringliches Geschwirr tausender Schmetterlingsflügel. Gleichzeitig erhebt sich ein ohrenbetäubendes Stimmchengewirr. Doch außer mir scheint es tatsächlich niemand wahrzunehmen. Mittlerweile ist die Besucherzahl größer geworden. Sie erfreut sich an der immensen Schmetterlingstraube, die mich umgibt.

Ich versuche aus dem Stimmchenwirrwar einzelne Wortfetzen herauszufiltern. Es gelingt mir schließlich zu verstehen, dass wir auf dem Weg zu der Höhle sind, in der der Rat der Sieben tagt. Gewissermaßen die Versammlung der Oberschmetterlinge. Mir schwant, dass es sich um jene Höhle handeln muss, in der anno dazumal Ephraim Kishon und seine Reisegruppe den letzten „panaxia quadri punktaria“ vermuteten.

Plötzlich halten die Schmetterlinge an, machen einen Weg für mich frei, und ich erkenne den winzigen Eingang zur Höhle. Davor fliegt Boris hin und her und ruft mir zu: „Komm, wir sind schon spät dran!“, und schon ist er in der Höhle verschwunden. Ich bin 164 Zentimeter groß, die Eingangsöffnung misst gerade einmal 90 Zentimeter Höhe und 40 Zentimeter Breite. Es ist offensichtlich, ich passe da nicht durch. Doch weil mich in der letzten Stunde nichts mehr wundert, lenke ich meine Schritte in Richtung Höhle. Je näher ich komme, desto größer wird der Eingang – oder ich werde kleiner?? Ich schaue mich um. Die Schmetterlinge scheinen immer mächtiger zu werden, je näher ich dem Höhleneingang komme. Oder schrumpfe ich in diesem Moment auf 5 Zentimeter Lebensgröße? Plötzlich nehme ich erdbebengleiche Erschütterungen wahr und muss mich an einem Stein festhalten um nicht zu straucheln. Als ich die Balance wiedergefunden habe, erkenne ich direkt vor meinen Augen eine riesige Sandale aus der mächtige Zehen ragen, die vor meiner Nase auf und ab tanzen. Es ist gewiss, ich bin geschrumpft. Boris fliegt herbei, und der Sturm, den seine riesigen Flügel verursachen, reißt mich fast um. „Komm, komm!“, ruft er. Seine Stimme klingt nun sehr laut, tief und langsam, als würde ein Tonträger mit falscher Geschwindigkeit abgespielt. „Komm, komm endlich!“, ruft Boris abermals. Allerdings hat sich seine Stimme merklich verändert, klingt beinahe so wie die meiner Reisegefährtin Gerda!? Ich blinzle, als ich wahrnehme, dass Boris, die Höhle und all die anderen Schmetterlinge plötzlich ins Dunkel abtauchen. Ich reiße die Augen auf…und blicke in das Antlitz meiner Freundin Gerda.

Ein Traum – all das Zauberhafte ist nur ein Traum gewesen, aus dem ich schwer erwachen kann. Ich bin enttäuscht. Nun werde ich nie erfahren, wofür Boris, der „panaxia quadri punktaria“, meine Hilfe gebraucht hätte!

„Steh bitte auf, ich hab schon Frühstück gemacht. Wir wollen doch heute ins Tal der Schmetterlinge fahren bevor es unerträglich heiß wird!“, sagt Gerda schon ein wenig genervt.

 Zwei Stunden später stehen wir an der Pforte zum Tal der Schmetterlinge. Als wir sie durchschreiten, erfasst mich ein mystischer Schauer…