© by Reinhard Schwarz

Das Abenteuer des kleinen Eisbären

 

Es war einmal ein kleiner Eisbär, der wohnte nicht weit weg vom Nordpol. Das ist dort, wo es immer sehr kalt ist, viel Schnee liegt und der Wind pfeift. Darum war der kleine Bär ja auch ein Eisbär.

Der kleine Bär hatte natürlich auch eine Mama. Die passte auf, dass dem kleinen Eisbären nichts passierte. Und passieren kann schon einiges! Zum Beispiel kann ein kleiner Eisbär auf eine Eisscholle geraten. Das ist ein Stück Eis am Rand des Meeres. Zuerst ist es noch mit dem Schnee und Eis am Land verbunden, aber ein Teil schwimmt schon auf dem Meerwasser. Und wenn jetzt ein kleiner Bär das nicht weiß, kann es passieren, dass der schwimmende Teil abbricht und mit dem kleinen Bären drauf davonschwimmt.

Oder es kann sein, dass ein kleiner Bär mit den Robbenkindern spielen will, weil das lustig und ihm selber vielleicht gerade fad ist. Aber die Robbenmamas finden das nicht lustig und verjagen ihn, weil sie glauben, dass ein Eisbär gefährlich ist und ihre Kinder fressen will. Doch ein kleines Eisbärenkind weiß das noch gar nicht!

Manchmal, aber zum Glück nur ganz selten, kommen auch Menschen vorbei. Die machen dann entweder einen großen Lärm mit ihren motorisierten Fahrzeugen, dass man sie schon von weitem hört. Oder sie kommen auf Hundeschlitten, die sind zwar leise, aber die Hunde bellen ständig, sodass sie sich auch schon ankündigen, bevor man sie noch sieht. Vor Menschen muss man sich hüten, hat die Mama schon oft gesagt. Man weiß nie, was ihnen einfällt. Einen Onkel haben sie einmal gefangen und weggebracht, er ist nie mehr zurückgekommen. Darum ist es besser, sich vor den Menschen zu hüten und zu verstecken.

Das alles hat der kleine Eisbär schon oft gehört. Aber er ist noch nie mit einer Eisscholle davongeschwommen. Er hat noch nie ein Robbenkind gefressen. Und er hat noch nie einen Menschen gesehen.

Darum dachte der kleine Eisbär auch nicht daran, als er eines Tages ein wenig spazieren ging. Weil gerade kein Sturm pfiff, sondern die Sonne am Himmel stand, was nur selten vorkam, freute er sich sehr und ging immer weiter und weiter. Die Robbenkinder waren alle im Wasser, tauchten herum und spritzten sich gegenseitig an. Die Robbenmamas lagen auf ihren Bäuchen und passten auf.

Nein, dachte der kleine Eisbär, baden will ich heute nicht, und lief weiter, dorthin und dahin, immer fort. Irgendwann aber wurde er müde und hungrig. Jetzt geh ich heim, sagte er zu sich selber und kehrte um.

Jetzt gibt es aber am Nordpol nur Schnee und Eis, so weit man sehen kann. Und der Schnee und das Eis sehen immer gleich aus, nämlich weiß. Und darum ist es auch sehr schwer zu wissen, von wo man hergekommen ist und wo der Rückweg ist.

Das bemerkte der kleine Eisbär schließlich auch. Denn so lange er auch lief, er fand seine Mama nicht. Schließlich wurde es finster, und der kleine Eisbär musste hungrig und einsam schlafen gehen.

Am nächsten Morgen ging er weiter. Aber bald blieb er wieder stehen, denn vor ihm erhoben sich Berge. Das hatte er noch nie gesehen. Neugierig stieg er hinauf. Auf der anderen Seite standen Häuser. Das wusste der kleine Bär aber nicht, denn er hatte ja noch nie welche gesehen, und darum lief er hin und wollte sie aus der Nähe sehen.

In den Häusern wohnten Menschen. Diese fürchten sich normalerweise vor wilden Tieren, und ein Eisbär wohnt ja in der Wildnis und nicht in einem Stall. Aber heute war es anders…

 

Die Eisbärmama merkte, wie die Sonne langsam unterging, und begann sich Sorgen zu machen. Wo nur das kleine Eisbärkind blieb? Es musste doch schon einen großen Hunger haben und längst zuhause sein! Es wird doch nicht etwa fortgelaufen sein?

Die Eisbärmama beschloss, ihr Kind suchen zu gehen. Am Ufer des Meeres traf sie die Robben. Die Robbenmamas begannen gleich ein lautes Geschrei und sprangen ins Wasser, weil sie glaubten, ihre Kinder würden jetzt gefressen. Aber nein, rief die Eisbärmama den Robben zu, ich will niemanden fressen, sondern suche nur mein Kind.

Ach so, sagten die Robben, das ist natürlich etwas anderes. Ja, dein Eisbärkind ist in diese Richtung gelaufen. Aber das ist schon eine Weile her. Es sollte schon längst wieder daheim sein!

Eben, rief die Eisbärmama, eben drum mache ich mir ja Sorgen! Und sie lief rasch davon, in die Richtung, die ihr die Robben gezeigt hatten.

Bald wurde es finster. Die letzten Vögel zogen heim. He, du!, kreischte einer, suchst du dein Kind? Das ist weit weg von hier! Nicht weit von den Menschenhäusern!

Die Eisbärmama erschrak. Nicht weit von den Menschenhäusern? Das war ja gefährlich! Wer weiß, was die Menschen mit so einem kleinen Eisbärkind machen! Und sie trabte mit doppelter Geschwindigkeit weiter…

 

In dem Menschendorf ging es lustig zu. Es war gerade Faschingdienstag, und da verkleideten sich die Menschen, als Räuber oder Matrosen, als Prinzen und Eskimos, aber auch als Tiere. Und so fiel der kleine Bär überhaupt nicht auf, als er neugierig mitten durch die schwatzende Menschenmange trabte. Jö, schau, wie lieb!, riefen die Menschen, als sie ihn sahen, aber keiner nahm ihn gefangen oder sperrte ihn ein. Nein, dachte der kleine Bär, die Menschen sind eigentlich sehr lieb zu mir!…

 

Die Eisbärmama hatte inzwischen den Berg erstiegen und schaute in das Menschendorf hinunter. So nahe war sie noch nie gewesen! Sie merkte, wie sie Bauchweh bekam. Aber dort, war da nicht etwas Kleines, Weißes gewesen? Mitten unter den Menschen? Das war doch nicht möglich!

Vorsichtig stieg sie hinunter, immer hinter irgendwelchen Hecken oder Büschen versteckt. Ja, wirklich, das war ihr Kind! Mitten unter den Menschen! Und jetzt, jetzt streckte es einem Menschen sogar die Pfote zum Gruß hin! So etwas von Leichtsinn! Dem musste schleunigst ein Ende gemacht werden, bevor etwas passierte!…

 

Der Faschingsumzug war mitten im Gange, und das kleine Eisbärkind spazierte vergnügt mitten in der Menge herum. Hunger hatte es keinen mehr, denn viele kleine Menschenkinder steckten ihm eine Kleinigkeit zu. Manches schmeckte ihm recht gut, anderes wieder nicht, und dann lachten alle, wenn er etwas ausspuckte.

Plötzlich gab es eine Unruhe in der Menge. Sie teilte sich und bildete eine kleine Gasse, und in dieser Gasse kam die Eisbärmama daher gekeucht. Sie wollte ihr Kind sofort wegziehen und mitnehmen, der Kleine war aber damit überhaupt nicht einverstanden, es gefiel ihm ja hier sehr. Und so musste die Mama notgedrungen auch noch eine Weile dableiben und sich sehr wundern, dass die Menschen sich nicht vor ihr fürchteten oder sie gar fingen und einsperrten. Nein, ganz im Gegenteil, die Menschen waren sehr freundlich, lachten und klopften ihnen auf die Schultern.

Wir möchten nur wissen, wer ihr seid!, riefen sie.

Was für eine dumme Frage, dachte die Eisbärmama, das sieht man doch.

Und als alle genug geschaut und gelacht und gerätselt hatten, durfte die Eisbärmama das Eisbärkind schließlich mitnehmen. Beim Dorfbrunnen stärkten sie sich noch einmal für die lange Rückreise zum Nordpol, ehe sie aufbrachen.

 

Und die Menschen im Dorf glauben bis heute, dass sich jemand so gut verkleidet hat. Nur der Zeitungsreporter, der sie fotografiert hat, meint, dass es vielleicht gar zwei echte Eisbären waren. Denn unter ihrem Bild in der Zeitung hat er geschrieben: Besuch vom Nordpol.

Na, dann muss es ja stimmen!