© by Johanna Blümel

DER KLEINE SIR

 Dass aus ihnen einmal ein Liebespaar werden könnte, das hätte sie nie gedacht als sie ihn das erste Mal sah:

abgemagert, heruntergekommen, dreckig, O-Beine, ein etwas steifer Gang, ungepflegte Kurzhaarfrisur, kleiner als sie – wahrlich kein Bild von einem Mann nach ihren Vorstellungen.

Am Telefon erzählte sie einer Bekannten von ihm und meinte, er wäre der letzte, der ihr ins Haus käme und außerdem – sie sei nicht auf Partnersuche.

In Abständen von 2 – 3 Tagen liefen sie sich immer wieder über den Weg.

Er war es, der schließlich die Distanz langsam, vorsichtig zu verringern begann.

Irgendwie ist es auch schwer an Abneigung zu glauben, wenn sie einem immer wieder verstohlen, aber doch kleine Mengen Essen zusteckt.

Wahrscheinlich ertrug sie den Anblick seiner ausgemergelten Gestalt nicht???

Er jedenfalls spürte hinter der rauen, abweisenden Fassade, einen weichen, genießbaren Kern.

Sie wäre sicher nicht sein Fall gewesen, hätte sie das Leben nicht so zusammengeführt. Immerhin war er etliche Jahre jünger als sie und ein ziemlicher Draufgänger. Den Mädels sehr zugetan, aber welche will schon so einen Rest von einem Mann???

Hunger ist nicht nur der beste Koch, er  bringt auch so manche Beziehung zustande.

Die Beziehung unserer beiden war jedenfalls noch sehr am Anfang. Er wusste von seinem Hunger, sie nicht von ihrem. Er holte sich die kleinen Portionen von ihr ab, sie machte danach schnell die Tür zu und schämte sich wegen ihrer Schwäche.

„Wenn du so weiter machst, hast du den Kerl bald am Hals!“, schalt sie sich im Gedanken.

Sie lebte in Wohngemeinschaft mit einer älteren Gefährtin, welche die Aktion mit missbilligendem Blick verfolgte.

Diese jagte ihn weg, war sie mal allein zu Hause. Waren beide zur gleichen Zeit anwesend, versuchte sie ihn zu ignorieren.

Es kam, wie es kommen musste. Eines Tages zog er bei ihnen ein.

In der Wohngemeinschaft herrschte nun oft dicke Luft.

Sie war ja auch irgendwie arm, die Freundin. War er doch schon die 3. Bekanntschaft, die sie in einem Jahr machen musste. Sie, eine schwarzhaarige, rassige Schönheit, mit feurigem grünem Blick und bereits einigen weißen Fäden im Haar.

Eigentlich hätten die vielen Bekanntschaften besser zu ihr gepasst, als zur Wohnungskollegin. Bezugs Attraktivität stellte sie diese locker in den Schatten.

Jedenfalls – Fremdenfeindlichkeit konnte man ihrer Gefährtin wirklich nicht vorhalten.

Na ja, dass der kleine Sir, wie sie ihn bald nannte, bei ihr eingezogen war, behielt sie erst für sich. Irgendwie war es peinlich zuzugeben, dass sie den Kampf verloren hatte.

Er wurde schnell anspruchsvoller – alles, das sie ihm vorsetzte, wollte er bald nicht mehr essen. Vorwürfe wie: „Früher hättest du Ameisen gegessen, um satt zu werden, kommentierte er mit einem Kuss und brachte sie so zum Schweigen.

Wer schafft es da noch weiter zu keppeln?

Jede Nacht durchschlafen konnte sie freilich nun vergessen.

S` ist halt so – ein Mann im Haus und mit der Nachtruhe ist ’s aus. Es gab jedenfalls Nächte, da hätte sie ihn gerne „faschiert“.

Die Schwarzhaarige blickte meist mit dem „Hab ich ’s dir nicht gesagt“ Blick, wenn die Gefährtin nach einer störungsreichen Nacht, wieder übermüdet beim Frühstück saß.

Natürlich versuchte der kleine Sir auch bei der Rassigen sein Glück, doch die machte kurzen Prozess und rieb ihm einige Male eine auf.

Während die beiden Mädels vorher ein eingespieltes Team waren: die eine machte sauber, die andere ein bisschen Dreck, beide gingen zur gleichen Zeit außer Haus und kamen gleich heim etc., war es mit der Ordnung vorbei, als der kleine Sir da war.

Er patze beim Essen, kam bei Regen dreckig heim und brauchte lange, bis er bei der Körperreinigung den Hals und die Teile unterhalb von Ellbogen und Knie mit integrierte.

Es dauerte 1,5 Jahre, bis er sich zum Schwarm der Frauen mauserte. Zu diesem Zeitpunkt hatte er die Rassige bereits auf seiner Seite. Seine täglichen Aufforderungen zum Kampf hatten sie mürbe gemacht. Inzwischen fordert sie ihn zum Wettstreit auf, wenn er es vergisst.

Er ist stur, der kleine Sir. Was er durchbringen will, das verfolgt er mit Beharrlichkeit. Das hat ihm sicher auch das Leben gerettet.

Not lernt kämpfen, und er siegte. Nicht überstürzt, sondern mit Ausdauer, nicht feig, sondern mutig, nicht brutal, sondern mit Liebe, nicht plump, sondern mit Humor, nicht blind, sondern mit wachen Sinnen, im Glauben und Vertrauen auf seine Instinkte, die ihm der Schöpfer zum Über-Leben mitgab.

Ehrlich – man kann der Schöpfung schon einiges „abluchsen“. Mir haben meine Katzen jedenfalls schon viel fürs Leben gelernt. Nur beherrsche ich es noch lange nicht so gut wie sie….